Frohe Weihnachten! Ach halt nein Moment, noch zu früh!
Doch am 13.November (Montag) möchte ich in diesem Thread mit einem Re-Run meiner bisherigen drei Weihnachtsgeschichten starten, ehe es am 3.Dezember (1.Adventsonntag) mit der neuen und zugleich letzten Weihnachtsgeschichte weiter geht. Die Termine sehen deshalb wie folgt aus:
ab 13.11 (Montag): Eine Weihnachtsgeschichte (aus dem Jahr 2014) ab 19.11. (Sonntag): Eine neue Weihnachtsgeschichte (aus dem Jahr 2015) ab 25.11 (Samstag): Weihnachtsgeschichte die Dritte (aus dem Jahr 2016)
Alle drei Weihnachtsgeschichten wurden dabei noch einmal persönlich von mir nach Rechtschreibfehlern durchgecheckt. An der Story selber wurde aber nichts verändert.
ab 3.12 (Sonntag): Eine letzte Weihnachtsgeschichte
Wie bereits in den Jahren zuvor, erscheinen auch bei der neusten Weihnachtsgeschichte die einzelnen Kapitel wieder an den Adventsonntagen und natürlich an Nikolaus. Da der 4.Advent dieses Jahr zugleich auch Heiligabend sein wird, werde ich die Geschichte bis auf den 2.Weihnachtsfeiertag ausdehnen. Sprich es werden am Ende trotzdem wieder 6 Kapitel mit Epilog sein.
Prolog: Ich schlenderte den langen Gang entlang und hörte dabei zu, wie meine Schuhsohlen auf dem Boden quietschten. Eine Putzkraft kam mir entgegen und nickte mir zu, also nickte ich ihr freundlicherweise zurück. Ein Haar wehte mir ins Gesicht und mit einer automatischen Bewegung fuhr ich mir mit meiner rechten Hand durch mein braunes Haar. Allmählich wurde es mir auch heiß in dem Gebäude und ich fing zu schwitzen an. Also riss ich mir meine Winterjacke vom Leib, ehe ich an mein Ziel ankam. Ein selbstgestrickter grüner Pullover kam darunter zum Vorschein, der mich in dem kalten Winter schön warm hielt. Ich bekam ihn von meiner Oma mütterlicherseits erst vor kurzem zum 19. Geburtstag geschenkt. Meine Oma strickt mir jedes Jahr aufs Neue einen Pullover und meine Mum zwang mich dazu, sie auch zu tragen, vor allem dann, wenn meine Oma so wie heute zu Besuch kam. Unter dem Pullover trug ich noch ein weißes Shirt, damit der Strickpullover nicht so an meinem Körper kratzte. Meine Beine wurden von einer blauen Jeans überdeckt. Eine Melodie erklang aus meiner Hosentasche, gefolgt von einer Vibration. Ich blieb kurzfristig auf der Stelle stehen, zog mit meiner rechten Hand mein Handy heraus und ging ran. „Ja hallo, Lukas Hader hier.“ Ich hörte der Stimme am anderen Ende der Leitung zu. Irgendwann sagte ich: „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich und meine Freunde haben bereits alles in die Wege geleitet. Morgen kann es losgehen. Tut mir leid, aber ich muss jetzt leider auflegen. Ich bin gerade im Krankenhaus, aber wir sehen uns morgen, dann besprechen wir alles weitere. Auf Wiederhören!“ Ich steckte mein Handy zurück und setzte meinen Weg fort. Irgendwo hier musste es eigentlich sein. Ich blickte einmal nach rechts und dann nach links, ehe ich die Zimmernummer 314 auf einem kleinen silbernen Schild las, dass an der Tür angebracht war. Ich war an meinem Ziel angekommen. Ich atmete einmal tief durch und versuchte cool, gelassen und fröhlich rüberzukommen, ehe ich zweimal an der Tür klopfte.
Kapitel 1: 1.Advent, das erste Lichtlein brennt Ich trat langsam und leise durch die Tür und erspähte meinen besten Freund, der in seinem Krankenbett lag und zum Fenster hinausblickte. „Da siehst du nichts, außer graue Wolken.“, sagte ich zu ihm und begrüßte ihn freudestrahlend. Auch in seinem Gesicht zauberte sich ein Lächeln, als er mich sah und ich ihn sanft und freundschaftlich umarmte. „Bei dem Wetter draußen muss man ja trübselig werden.“, meinte mein bester Freund, als wir uns aus der Umarmung wieder lösten. Sein Name war Julius Bruck, neunzehn Jahre jung, schwarzhaarig und er war mit einer schweren Krankheit ans Bett gefesselt.“ „Wie geht es dir Jules?“, fragte ich meinen besten Freund und redete ihn mit seinem Spitznamen an. „Wie fühlst du dich? Kümmern sich die Ärzte hier gut um dich?“ „Du weißt doch…, ich bin nicht unterzukriegen.“, antwortete Julius mir lediglich. „Lass uns nicht über mich reden. Wie geht es mit eurem Projekt voran? Habt ihr schon begonnen?“ Ich musterte meinen Freund argwöhnisch. Er hasste es über seine Krankheit zu reden und die Vermutung lag mehr als nahe, dass er seine Krankheit ignorierte, statt sich ihr zu stellen. Dennoch ließ ich ihn mit diesem Thema in Ruhe und erklärte mich dazu bereit, mich über andere Dinge des Lebens mit ihm zu unterhalten. „Ja morgen geht es los. Ich zieh mit Lexi um die Häuser und dann sehen wir ja was dabei herumkommt. Wir sind auf alles gefasst.“ „Das ist gut. Ich wäre ja gerne dabei und würde euch unterstützen, aber leider bin ich an dieses Bett gefesselt, wie die Irren einer Anstalt.“, sagte Julius zu mir und ließ einen traurigen Blick über sein Bettlaken wandern. Ich versuchte ihn aufzuheitern, also stellte ich mich breitbeinig vor ihm auf und präsentierte ihm meinen neuen Strickpullover. „Was sagst du hierzu? Hat mir meine Oma gestrickt. Ist er nicht schön flauschig? Fast so flauschig wie deine Haarpracht.“ Mit sofortiger Wirkung zauberte ich erneut ein Lächeln in Julius Gesicht. Er lachte sogar kurz lauthals und rief mir zu: „Alle Jahre wieder was?! Deine Oma schenkt dir doch jedes Jahr zu deinem Geburtstag einen Strickpullover, aus Angst du könntest den Winter über erfrieren.“ „Ja, aber an deine flauschigen Haare kommt dieser Strickpullover nicht ran.“, erwiderte ich und fuhr mit meiner rechten Hand durch die Haare meines besten Freundes und zerwuschelte sie dabei. „Hey!“, schimpfte Julius mich aus, hatte dabei jedoch ein Lächeln im Gesicht. Ich grinste frech zurück und für einen kurzen Moment konnte sogar ich seine Krankheit ausblenden. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile und nach einer Stunde ging ich wieder nach Hause.
„Ich bin wieder da!“, rief ich quer durchs Haus, während ich Jacke und Schuhe auszog und mir der Duft von frischgebackenen Plätzchen durch die Nase zog. Mir wurde es sofort warm ums Herz, als ich das Wohnzimmer betrat, in dem ein Kaminfeuer loderte und meine zwei kleinen Geschwister auf dem Teppichboden mit Memorys spielen sah. Insgesamt hatte ich drei Geschwister. Sebastian und Sarah waren meine zehn Jahre jüngeren Geschwister und zudem Zwillinge, die sich ständig über belangloses Zeug in den Haaren lagen. Ich hatte auch noch eine ältere Schwester. Ihr Name war Lena, sie war drei Jahre älter als ich und studierte Kunst. Zudem war sie Mitglied einer Theater AG, das jedes Jahr ein Weihnachtsstück in der Universität aufführte. Gerade eben stand sie aber mit unserer Mutter in der Küche und backte fleißig Plätzchen. Der Duft zog ins Wohnzimmer und ich konnte kaum widerstehen, nicht sofort zuzugreifen und sie zu vernaschen. „Ja da ist er ja, mein Lieblings-Enkel!“, schrie plötzlich eine schrille Stimme und als ich mich umdrehte, kam meine Oma auf mich zugestürmt und busselte mich im ganzen Gesicht ab. Ich verzog das Gesicht, während meine zwei kleinen Geschwister zu kichern anfingen. „Schwiegermama ich hab dir schon einmal gesagt, dass du doch keines deiner Enkelkinder bevorzugen sollst.“, sagte mein Papa, der bequem in seinem Sessel saß und bis gerade eben noch die neuen Einkaufsprospekte von Rewe und Aldi nach Sonderangeboten durchstöberte. Bevorzugen? Meine Geschwister waren alles andere als neidisch auf mich, denn auf die feuchten Schmatzer unserer Oma konnten sie gut und gerne verzichten, mal davon abgesehen dass… „Lukispatzi spielt doch sicherlich mit mir eine Runde Mensch-ärgere-dich-nicht, nicht wahr?!“, fragte meine Oma mich so, dass ich nur schlecht nein sagen konnte. „Nur wenn du nicht wieder schummelst.“, meinte ich zu ihr. „Ich schummle nicht. Die Figuren rutschen wie durch Zauberhand immer ein Feld weiter, als sie sollten.“, redete sich meine Oma ungeschoren heraus. Ich liebte meine Oma sehr und war froh, dass es ihr im Alter von dreiundachtzig Jahren noch so gut ging. „Pass auf Lukas, sonst schlägt sie dich wieder in Grund und Boden.“, sagte meine Schwester Lena zu mir, die mit einem heißen Blech frischgebackener Plätzchen ins Wohnzimmer gestürmt kam und es auf zwei Untersetzer abstellte, damit sie auskühlen konnten. „Lena, die Zimtsterne müssen noch glasiert werden!“, rief meine Mutter aus der Küche und meine Schwester trottete auch schon wieder zurück. Dafür kam meine Mutter aus der Küche stolziert, die ein Hühnchen mit unserem Vater zu rupfen hatte: „Wolfgang, jetzt lieg hier nicht so faul auf dem Sofa herum. Es gibt noch eine Menge im Haushalt zu erledigen und vergiss bitte nicht, dass du dieses Jahr den Weihnachtsbaum kaufen wolltest. Wenn wir keinen haben, fällt Weihnachten eben aus!“ Meine zwei kleinen Geschwister Sebastian und Sarah warfen ihre Memorys zu Boden und blickten unsere Mutter schockiert an. „Das war nur Spaß Kinder.“ „Jetzt schlag hier keine Wurzeln Junge! Hol das Spiel na hopp!“, befahl meine Oma und ich tat wie mir geheißen. Mit meiner Oma legte sich besser niemand an!
Nachdem das Spiel zu Ende war und meine Oma mich haushoch abgezockt hat, zog ich mich eine Weile in mein gemütliches und vor allem ruhiges Zimmer zurück. Ruhe – genau das was ich momentan benötigte. Ich warf mich auf mein breites Bett und starrte die Decke an, während mir unzählige Gedanken durch den Kopf schossen - vor allem Gedanken über Julius. Ich hoffte, dass er bald wieder gesund wird, denn wenn nicht…, daran sollte ich lieber nicht denken, aber wenn doch… nein, dass darfst du dir nicht einmal vorstellen Lukas, aber wenn nun doch… er musste die Wahrheit über mich erfahren! Es klopfte an meiner Tür und ich sitze mich erst aufrecht hin, ehe ich den Zutritt in mein „Revier“ erlaubte. „Ach du bist es nur.“, gab ich betont gleichgültig von mir und legte mich wieder ins Bett, als meine große Schwester Lena das Zimmer betrat und sich auf einem plüschigen Hocker niederließ. „Ich freu mich auch dich zu sehen.“, erwiderte Lena etwas gekränkt. „Was ist denn los? Bist du heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden? Geht es Julius etwa schlechter?“ Ich schüttelte den Kopf und antwortete ihr: „Mich belastet es einfach, dass er immer noch nicht weiß, wer ich wirklich bin. Ich will mich nicht länger vor ihm verstecken müssen.“ „Mensch Lukas, dann sag es ihm doch endlich!“, meinte Lena zu mir genervt. „Ihm sagen? In seinem Zustand? Das ist viel zu riskant!“, entgegnete ich nun leicht wütend, über Lenas mangelndes Verständnis von Julius Lage. „Dann sag es ihm eben nicht.“, sagte Lena daraufhin. „Danke, du bist so gar keine Hilfe…“, sagte ich zu ihr, stand von meinem Bett auf und blickte zum Fenster hinaus. Ein altes Ehepaar ging gerade auf dem Fußgängerweg unter den kahlen Bäumen spazieren, gleichzeitig zogen graue Wolken über sie hinweg. „Tut mir leid, aber bei dir weiß ich manchmal wirklich nicht mehr weiter. Du hast dich uns, deiner ganzen Familie, offenbart und wir haben doch auch kein Problem damit.“, sagte Lena. „Lexi weiß es inzwischen auch. Ich hab es ihr am Dienstag in der Uni erzählt.“, berichtete ich meiner Schwester, nachdem ich mich wieder zu ihr umdrehte und mich an die Wand lehnte. „Und wie hat sie reagiert?“, fragte Lena neugierig nach. Ich zuckte mit den Schultern und antwortete: „Eigentlich ganz gut, sie hat mich hinterher nicht anders behandelt als vorher, wenn sie mich natürlich auch mit Fragen durchlöcherte.“ „Na siehst du und wieso kannst du es Julius dann nicht auch erzählen? Ich bin mir sicher, dass er es ganz locker sehen wird. Ihr kennt euch schließlich schon seit dem Kindergarten.“ „Ja eben weil wir uns schon so lange kennen und beste Freunde sind, trau ich mich nicht es ihm zu sagen. Er könnte daraus falsche Schlüsse ziehen…“, erklärte ich ihr betrübt. „Glaubst du denn, er wird denken, dass du scharf auf ihn bist und ihn am liebsten in oder noch besser ohne Unterwäsche betrachten würdest, nur weil du schwul bist?!“, „Danke für diese ausführliche Schlussfolgerung und ja das denke ich.“, antwortete ich ihr im sarkastischen Unterton und schlug mir beschämt die Hände vors Gesicht. |addpics|i8r-1-5232.png-invaddpicsinvv|/addpics|
Kapitel 2: Nikolaus Es war Freitag am späten Nachmittag und ich zog bereits seit sieben Stunden mit meiner besten Freundin um die Häuser. Natürlich nicht zum Saufen und Party machen, denn so einer war ich nicht, nein, Lexi und ich waren mit völlig anderen Motiven unterwegs. „Ich kann nicht mehr!“, jammerte mir meine beste Freundin nun schon zum neunten Mal ins Ohr. „Lass uns für heute Schluss machen Lukas. Ich hab schon Blasen an den Füßen und kalt ist mir zudem auch noch. Die nächsten Wochen haben auch noch Freitage, sofern der Maya-Kalender sich nicht um ein paar Jahre verschätzt hat und die Welt doch noch untergeht.“ „Jetzt hör doch endlich mal auf zu jammern! Das ist ja unerträglich!“, beschwerte ich mich bei ihr. „Du hast dich doch freiwillig dafür gemeldet und wusstest worauf du dich einlässt.“ „Da wusste ich ja auch noch nicht, dass das hier in Arbeit ausartet!“, konterte Lexi. „Hör mal.“ Ich legte mir ein paar Worte zurecht, um Lexi milde zu stimmen. „Wir haben alle gemeinsam mit unserem Clubleiter beschlossen, dass wir durch die Straßen ziehen, um armen und bedürftigen Menschen in ihrer Not beizustehen. So etwas lässt sich nun mal nicht von Zuhause und im Warmen erledigen. Dir ist kalt? Dann überleg mal, wie kalt es den Menschen sein muss, die kein Dach über den Kopf haben, oder nur spärlich bekleidet sind, weil sie sich nichts leisten können. Es gibt genug hungrige Mäuler, wir müssen sie nur erst finden.“ „Ist ja schon gut… du meine Güte. Hättest du dich nicht erst kürzlich bei mir als schwul geoutet, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dich nun Mutter Teresa zu nennen.“, sagte Lexi. Ich fing zu lachen an. „Du hättest mich trotzdem so genannt, allein um mich zu necken.“ „Hm… wohl wahr.“, pflichtete Lexi mir bei, während sie hinter mir her schlurfte, als wir gerade über eine Brücke stolzierten. „Deine Solidarität kennt keine Grenzen.“ Lexi und ich kamen am Ende der Brücke an und ich sah, wie Rauch vom Flussufer unterhalb der Brücke aufstieg. Ein Blick nach unten und ich konnte einen alten Mann in einer grauen Regenjacke erkennen, der sich seine Hände an einem kleinen Lagerfeuer rieb. „Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist.“, meinte Lexi zu mir. „Der Polizei wird das gar nicht gefallen.“ „Ein Grund mehr dort runter zu gehen und mit dem Mann zu sprechen.“, sagte ich, noch während ich einen Schlenker um das Brückengeländer zog und mich auf den Abstieg vorbereitete. „Kommst du?!“, fragte ich Lexi, die sich nicht von der Stelle bewegte. „Ich glaube ich warte lieber hier. Der Abhang sieht eisig und glitschig aus. Am Ende rutsche ich noch aus und lande im kalten Wasser. Eine Erkältung ist derzeit das Letzte was ich gebrauchen kann. Du schaffst das auch sicher ohne mich.“ „Wieso wundert mich das gerade nicht, aber okay, ich schaff das auch alleine. Warte einfach hier… und friere mir nicht am Boden fest.“, sagte ich schmunzelnd, während ich vorsichtig den Abhang hinunter stieg. Unten angekommen, wischte ich mir zunächst einmal den kalten Schweiß von der Stirn, ehe ich meinen Weg zu dem Mann fortsetzte. Der Mann saß unter der Brücke auf dem kalten Boden. Er hatte einen grauen Bart und langes zerzaustes Haar, das unter einer kleinen Mütze hervor lugte. Er trug an beiden Händen zwei zerrissene dunkelgrüne Handschuhe, die er über dem Feuer ausstreckte. „Du hättest auch einfach die Treppe auf der anderen Seite der Brücke nehmen können, mein Junge. Das wäre wesentlich einfacher und sicherer gewesen.“, sagte der Mann ohne aufzublicken. Plötzlich fühlte ich mich dumm… einfach nur dumm, aber diese Tatsache blendete ich zuerst einmal aus, denn hier ging es um etwas viel Wichtigeres. „Sagen Sie mal, der Boden ist doch sicher feucht und kalt. Das ist nicht gut für ihre Gesundheit. Sie könnten krank werden.“ „Na und? Wenn ich krank werde, dann werde ich krank und wenn ich deswegen sterben muss, dann sterbe ich eben.“, sagte der Mann gleichgültig zu mir. „Mich kümmert das nicht mehr, denn andere hat das auch nie gekümmert und du solltest es Ihnen und mir gleich tun.“ „Sie haben wohl viel mitgemacht, was?“, fragte ich den Mann, ohne eine Antwort darauf zu erhalten, also erklärte ich ihm weswegen ich überhaupt gekommen war. „Hören sie Herr…“ „Ich heiße Arthur Jüssen, aber meine Freunde nennen mich Arti und du darfst mich gerne auch so nennen, mein Junge.“, stellte sich der Mann bei mir vor. Seine Art zu Sprechen machte ihn schon bei mir sympathisch und sein Spitzname verstärkte dieses Gefühl nur. „In Ordnung… Arti. Mein Name ist Lukas und ich bin hier zusammen mit meiner besten Freundin Lexi. Wir gehören einem Club an, der am Montag ein Projekt startete, um armen und bedürftigen Menschen wie ihnen zu helfen. Wir können Ihnen sowohl ein Dach überm Kopf, als auch etwas Warmes zu essen anbieten. Wenn Sie uns begleiten, dann kümmere ich mich persönlich darum, dass Sie nie wieder unter dieser Brücke schlafen müssen.“ „Das hört sich ja alles recht nett an, aber wer oder was hat dir ins Ohr geflüstert, dass ich auf deine Hilfe angewiesen bin. Ich bin ein alter Mann. Vor fünf Jahren verlor ich meinen Job und meine Frau, die sich von mir scheiden ließ. Kinder habe ich keine und auch sonst keine Verwandten. Ich bin fünf Jahre gut ohne deine Hilfe zurechtgekommen. Dies ist nicht mein erster Winter unter dieser Brücke, die inzwischen meine neue Heimat geworden ist.“ „Arti…“, ich kniete mich zu dem Mann hinunter und blickte ihm in die Augen, in denen sich zwar die Flammen des Lagerfeuers spiegelten, aber sein inneres Feuer längst erloschen war. „…bitte lassen Sie sich von mir helfen. Ich verspreche ihnen, dass sie es nicht bereuen werden. Geben Sie mir eine Chance und vor allem geben Sie sich selber eine Chance.“ Artis Blick war die ganze Unterhaltung über auf das Feuer gerichtet, doch nun sah er mich zum ersten Mal mit seinen traurigen und verlorenen Augen an. Ich lächelte ihm sanft entgegen und brachte somit das Eis zum Schmelzen.
Nachdem wir Arti in unseren Club brachten, zogen Lexi und ich ein letztes Mal um die Häuser, auf der Suche nach armen und bedürftigen Personen. „Jetzt ist es schon dunkel und ich werde das Gefühl nicht los, dass es noch kälter geworden ist.“, beschwerte sich Lexi. „Wenn es doch wenigstens mal zu schneien anfangen würde, aber nein, alles ist nass und grau. Null Weihnachtsstimmung.“ Auf einmal hörten wir ein leises Wimmern. Zuerst dachte ich noch, ich hätte es mir nur eingebildet, aber bei genauerem Zuhören, erkannte ich klar und deutlich ein Wimmern ganz in der Nähe. „Hast du das gerade auch gehört?“, fragte ich meine beste Freundin, die mir mit einem Kopfnicken ihre Bestätigung gab. „Ich glaube, das kam von dort drüben.“ Ich ging ein paar Schritte an einer Hecke entlang, ehe ich an einer Hofeinfahrt mit zwei Mülltonnen an der Seite anhielt. Ich versuchte noch einmal zu lauschen, doch das Wimmern war verschwunden. „Vielleicht haben wir uns das nur eingebildet.“, meinte Lexi daraufhin. Ich wollte schon aufgeben, denn inzwischen war es spät und meine Zehen fühlten sich wie Eisklötze an, ganz zu schweigen von dem Schnupfen den ich mir holte, doch dann hörte ich das Wimmern erneut und es kam aus der Richtung der beiden Mülltonnen. Ich beugte mich vorsichtig hinunter und schob eine der Mülltonnen ein wenig zur Seite. „Oh wie süüüß!“, stieß Lexi beim Anblick eines kleinen Mischling-Hundes aus, der vor Eiseskälten am Boden lag und fror. „Hey mein Kleiner.“, wandte ich mich an den Hund, der sehr krank aussah. „Hab keine Angst, ich will dir helfen.“ Der arme Hund hatte mit Sicherheit Angst vor mir, doch war er zu schwach auf den Beinen um wegzurennen. Auch ließ er sich von mir problemlos in die Arme nehmen, wie ein kleines Baby. „Ich glaube, er ist noch ein Welpe.“, sagte ich zu Lexi. „Wir sollten ihn schnellstmöglich zu uns in den Club bringen, sonst erfriert er hier draußen.“ „Von Tieren war aber nie die Rede…“, meinte Lexi leicht erschrocken und handelte sich von mir dadurch einen bösen Blick ein. „Ist ja gut. Du hast ja Recht. Heute ist Nikolaus, da wäre es ein Frevel, so einen süßen Hund im Stich zu lasen. Sollen wir ihm einen Namen geben?“ Ich benötigte keine zehn Sekunden für einen Namen, denn Lexi hatte ihn schon fast gesagt. „Ich werde ihn Niko nennen und zwar aus dem einfachen Grund, weil heute Nikolaus ist.“ „Das ist ein sehr schöner Name, aber für heute sollten wir es gut sein lassen, meinst du nicht auch?“, fragte Lexi mich und ich pflichtete ihr bei, denn inzwischen spürte ich meine Zehen kaum noch. Als wir uns auf dem Heimweg begaben, erblickte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Jungen, den ich so in unserem Alter schätzte, wäre da nicht ein sonderbares Detail. Der Junge hatte nämlich schneeweißes Haar und seine Augen waren eisblau, dass es mir bei seinem bloßen Anblick kalt den Rücken runterfuhr. Dieser Junge sah wirklich sonderbar aus, allerdings auch umwerfend gut. „Hey, wer bist du?!“, schrie ich über die Straße, doch da rannte der Junge mit einem Lächeln im Gesicht davon. Ich blickte ihn noch hinterher und fragte mich wer das wohl gewesen sein mag. „War da gerade jemand?“, fragte Lexi mich, die den unbekannten Jungen nicht gesehen hatte. Leise antwortete ich: „Ja…, aber er ist schon wieder weg… wer immer das auch gewesen sein mag.“
Kapitel 3: 2.Advent, das zweite Lichtlein brennt Es herrschte eine ruhige und harmonische Atmosphäre in unserem Clubhaus, obwohl es mit Menschen von der Straße überfüllt war, die keine Ahnung hatten, wo sie etwas zu Essen herbekamen, oder sich schlafen legen konnten. Doch beide Dinge konnten sie hier, denn dafür riefen die Mitglieder dieses Clubs die Aktion „Menschen in eisiger Not“ ins Leben. Unser Club erstreckte sich über die ganze Etage eines mehrstöckigen Gebäudes. Es gab Schlafplätze im Überfluss und in einem großen Raum, das wir Clubmitglieder zu einer Art Mensa umrüsteten, verteilten Mädchen und Frauen Essen an die Menschen, die wir Clubmitglieder von der Straße auflasen. Ich schlängelte mich durch die Menschen hindurch und kam zu einer Frau, die dem armen Arti gerade eine Schüssel warme Suppe überreichte. „Guten Appetit Arti und guten Tag Frau Bruck.“, begrüßte ich die Mutter von Julius, meinem besten Freund. „Wissen Sie wie es Julius geht?“ „Oh hallo Lukas. Danke der Nachfrage, ihm geht es schon wieder etwas besser. Der Arzt meinte, er sei auf einem guten Weg.“, antwortete Frau Bruck mir mit einem zufriedenen Lächeln. „Vielleicht erhört Gott meine Gebete ja doch und wir erleben noch schöne Weihnachten.“ Frau Bruck war eine sehr religiöse Frau. Sie hatte ihren Mann schon vor vielen Jahren bei einem schweren Autounfall verloren und musste Julius alleine großziehen. Sie schleppte Julius jeden Sonntag mit in die Kirche, um zu Gott zu beten. Ich glaube nicht an Gott und Julius eigentlich auch nicht, aber seiner Mutter zuliebe, begleitete er sie immer. Ich fand das ja falsch, aber sein Ding. „Mensch Lukas hier steckst du also und ich such dich schon überall!“, rief Lexi, die sich durch die Menschen hindurch zwängte und offenbar auf der Suche nach mir war. „Hast du unsere Club-Sitzung etwa vergessen? Der Clubleiter möchte doch ein paar Worte an uns richten.“ Ich hatte die Club-Sitzung tatsächlich vergessen und begleitete Lexi in ein anderes Zimmer, das für Außenstehende unzugänglich war. Hier befand sich das Zentrum und Herzstück unseres Clubs, denn hier fand vor vielen Jahren alles seinen Anfang. Das große Zimmer war hell beleuchtet, ein festlich beleuchteter Christbaum stand vor einem der vielen großen Fenster. Daneben hing ein großer Fernseher an der Wand und darunter stand ein Regal, in der sich eine Stereoanlage und eine PlayStation 4 befand, auf denen einige unserer Mitglieder gelegentlich spielten. Es gab eine große rote Couch, drei bequeme Sitzsäcke und einen schönen flauschigen Teppich. Überall hatten sich unsere zahlreichen Mitglieder verteilt. Einige standen auch hinter der Küchentheke, die mit Herd, Backofen, Mikrowelle und Spülmaschine voll ausgestattet war. Inmitten des Raumes stand unser Clubleiter Herr West, ein sehr ansehnlicher Mann mit braunem Haar und einer Brille auf der Nase. Ich tat mich schwer darin sein Alter zu schätzen, aber einige Mitglieder vermuteten, dass er älter sei, als er aussah. Zudem ging das Gerücht um, dass er mit einem Mann verheiratet sei, der sich allerdings immer auf Geschäftsreisen befand. Doch von uns Jungen traute sich nie wirklich einer, ihn genauer danach zu befragen. Er war eben unser Clubleiter, nicht mehr und nicht weniger. „Schönen guten Tag euch allen!“, begrüßte uns Herr West allesamt, während ich mich mit dem Rücken an einen Holzbalken anlehnte. „Heute sind wir alle vollzählig wie es scheint…, naja fast, aber unsere Gedanken sind natürlich auch bei Julius, der momentan leider nicht unter uns sein kann.“ Herr West richtete seinen Blick auf mich, da er genau wusste, dass ich mit Julius am besten befreundet war. Danach wandte er sich wieder allen zu. „Heute möchte ich keine lange Ansprache halten, sondern euch nur kurz für das danken, was ihr zusammen auf die Beine gestellt habt. Ihr habt viele Menschen gefunden und sie hier her gebracht. Diese Menschen sind nun wieder neuen Mutes und schöpfen neue Hoffnung. Sogar ein Hund befindet sich nun unter uns… ein herzliches Dankeschön an Lukas, denn ich wollte schon immer mal wissen, wie es sich anfühlt in Hundekacke zu treten.“ Ich lief rot im Gesicht an, während all meine Freunde im schallenden Gelächter ausbrachen. Herr West war mir keineswegs böse, aber er machte sich gerne einen Scherz daraus mich aufzuziehen. Irgendwie hatte er einen Narren an mir gefressen, doch wusste ich nicht wieso. „Jedenfalls…“, fuhr Herr West mit seiner Rede fort, „…macht weiter so, aber vergisst dabei nicht, für euer Studium zu lernen. Das ist mindestens genauso wichtig! Danke sehr.“ Die Mitglieder des CODA-Clubs, kurz für „Community Of Dreaming Artist“, klatschten Shane West Beifall und ich stimmte ebenfalls mit ein.
Am frühen Abend befand ich mich noch auf dem Weg ins Krankenhaus, um Julius einen Besuch abzustatten. Eigentlich war ich ziemlich müde von der Anstrengung der letzten Woche, aber Sonntag war der einzige Tag, an dem ich genügend Zeit hatte, um meinem besten Freund zu besuchen. Ich schlenderte also die Straße zum Krankenhaus entlang und dachte an nichts weiter als an Julius und mein bevorstehendes Coming-out vor ihm. Er musste endlich die Wahrheit erfahren. Ein Auto kam von hinten angerast und als es durch eine Pfütze fuhr, spritzte das dreckige Wasser mich von der Seite voll. „HEY, DU VERDAMMTER RASER!“, fluchte ich dem Auto laut hinterher. Da stand ich nun, klatschnass und das bei dieser eisigen Kälte. Na hoffentlich werde ich nicht krank. „Hier bitte.“, sagte eine Stimme hinter mir und als ich mich umdrehte, stand der Junge mit dem schneeweißen Haar vor mir und streckte mir ein Taschentuch entgegen. „Äh danke, aber ich glaube nicht, dass mir ein Taschentuch groß weiter hilft.“, sagte ich in einem möglichst höflichen Ton, da ich keineswegs undankbar erscheinen wollte. „Das ist für dein Gesicht, damit du dir wenigstens den Schlamm wegwischen kannst.“, erklärte der Junge mir. „Es sei denn du stehst darauf, als Schlammmonster durch die Gegend zu laufen.“ „Nein nicht wirklich, danke sehr.“ Ich nahm das Taschentuch dankend entgegen und wischte mir den Schlamm aus dem Gesicht. Julius lacht mich sicherlich aus, wenn er mich so sieht und dann würde ich vermutlich kein Wort mehr in Bezug auf mein Outing über den Lippen kriegen. „Ich hab dich und das Mädchen neulich gesehen, wie ihr dem armen Hund geholfen habt, da ist es das mindeste, wenn ich dir nun helfe.“, lächelte mir der Junge zu. Irgendwie war mir der Junge unheimlich. Sein schneeweißes Haar, seine eisblauen Augen… und sein Lächeln ließ ihn auch nicht „wärmer“ erscheinen, aber immerhin schien er recht nett zu sein, also wollte ich es ihm gleich tun. „Dürfte ich erfahren, wie mein „Retter in der Not“ heißt?“, fragte ich den Jungen. „Nenn mich einfach nur Jack.“, antwortete der Junge mir breit grinsend. „Freut mich sehr Jack, ich heiße…“ „...Lukas. Ich weiß.“, beendete Jack meinen Satz und er grinste nur noch breiter. Woher wusste er wie ich heiße? Steht mir mein Name vielleicht auf der Stirn geschrieben? „Und bevor du frägst, ich hab deinen Namen einfach nur geraten. Hab einen ziemlich guten Instinkt musst du wissen.“, erklärte mir Jack, doch irgendwie wollte ich ihm das nicht so recht glauben. Der Junge war wirklich eigenartig und ich konnte meine Augen gar nicht mehr von ihm abwenden, denn er war wirklich bildhübsch. „Wer bist du?“, fragte ich deshalb etwas genauer. Jacks Grinsen verschwand und er beugte sich zu mir vor. Seine unerwartete Nähe zu mir machte mich sofort nervös und ich bekam wildes Herzklopfen. Sofort führte ich Selbstgespräche in meinem Kopf: „Jetzt verknall dich bloß nicht in diesen gutaussehenden, aber sehr seltsamen Jungen, Lukas!“ Jacks Kopf befand sich nun genau neben meinem und ich konnte seinen kalten Atem in meinem Gesicht spüren. Seine Worte hallten noch lange Zeit in meinem Ohr wieder: „Ich bin ein Engel.“ Wortlos und ungläubig trat ich einen Schritt zurück und starrte Jack an. Dieser lächelte mich wieder an, als könnte er meinen, dass er mich wirklich für dumm verkaufen könnte. Ein Engel… natürlich… und ich bin der Osterhase, dessen Eier zwischen den Beinen baumeln. „Ich weiß, was du denkst Lukas.“, sagte Jack und ich machte einen weiteren Schritt zurück. „Ich kann deine Gedanken lesen.“ „Yeah… freu dich… ich glaub dir kein Wort.“, erwiderte ich schnippisch und drehte ihm den Rücken zu. Der Junge musste verrückt sein, vermutlich aus einem Irrenhaus ausgebrochen. Ich sollte ihm einfach den Rücken zuwenden und gehen. Julius wartete sicher schon sehnsüchtig auf mich. Doch ehe ich auch nur einen Schritt machte, legten sich zwei Arme um meinem Körper und ich fühlte mich wie festgefroren. An den Armen konnte ich Jacks blauen dicken Pullover erkennen und kurz darauf hörte ich auch sein Flüstern in meinem Ohr. „Bitte glaube mir, ich will dir nichts Böses. Ich bin gekommen um dir zu helfen, weil man mir dies aufgetragen hat. Es gibt eine Lektion die du lernen musst. Hab keine Angst, ich lasse dich schon in Ruhe, aber ich komme wieder, wenn du erkennst, dass ich Recht hatte und du mich brauchst. Doch noch ein letztes Wort von mir: Glaube!“ Nach diesem einen Wort verschwand die Kälte um mich herum und Jack löste auch die Umarmung von mir, die sich zwar frostig anfühlte, aber mir auch Geborgenheit bescherte. Ich drehte mich abrupt um, doch Jack war verschwunden. Er war ziemlich gut darin, schnell wegzurennen. Doch wer war er nun eigentlich? Ich ging endlich wieder weiter, doch nicht zu Julius ins Krankenhaus, sondern zu mir nach Hause, mit meinen Gedanken bei Jack und seinem letzten Wort an mich.
Kapitel 4: 3.Advent, das dritte Lichtlein brennt Es war ein turbulenter Sonntagmorgen in meiner Familie. Wir saßen zwar alle gemeinsam am Frühstückstisch, doch jeder schien mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Meine Schwester rührte nachdenklich in ihrer Müslischüssel rum, ohne auch nur einen Happen davon zu nehmen. Vermutlich dachte sie gerade wieder an ihren Freund Christoph, der ein Semester in Amerika absolvierte. Meine zwei kleinen Geschwister tuschelten ganz aufgeregt miteinander, als ob sie etwas ausheckten und meine Eltern… na die stritten sich mal wieder. „Wolfgang hast du die Stromrechnung eigentlich bezahlt?“, fragte meine Mutter im leicht hysterischen Unterton. „Ich dachte, du hättest das bereits getan.“, antwortete mein Vater ihr verblüfft. „Ich? Ich muss mich um den Haushalt kümmern und für Weihnachten alles vorbereiten. Was soll ich denn bitte noch alles erledigen?!“, erwiderte meine Mutter nun sehr aufgebracht. „Und ich muss arbeiten, damit Geld in die Haushaltskasse kommt.“, entgegnete mein Vater nur. „Ohne Geld kein Weihnachten und ohne Weihnachten keine Geschenke!“ „Pscht, nicht so laut, oder willst du den Kleinen Angst einjagen?!“, zischte meine Mutter ihn an, doch ein Blick auf die Zwillinge genügte, um festzustellen, dass sie gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren. Irgendetwas heckten Sebastian und Sarah aus… „Lena, wann und um wie viel Uhr müssen wir Christoph nun eigentlich am Flughafen abholen?“, fragte meine Mutter meine Schwester. „Das klär ich heute Abend noch mit ihm, wenn wir skypen.“, versicherte Lena unserer Mutter und damit war auch dieses Thema schon wieder vom Tisch. „Ich muss dann mal los.“, sagte ich schließlich und stand hastig vom Tisch auf. „Heute bist du aber früh munter. Julius läuft dir doch nicht weg, von dort wo er gerade ist.“, meinte mein Vater sarkastisch. „Verheimlichst du uns etwa was?“ Meine ganze Familie sah mich geheimnisvoll an und es dauerte ein paar Sekunden bis ich kapierte, worauf mein Vater hinaus wollte. „Um Himmels Willen Papa. Julius und ich sind nur gute Freunde!“ Mein Vater fing zu lachen an und meine beiden kleinen Geschwister zu kichern, während Lena ihr Müsli auslöffelte und meine Mutter mich nur argwöhnisch begutachtete. „Da fällt mir ein.“, sagte ich schließlich. „Papa, kannst du mir etwas Geld für den Bus leihen? Ich hatte diesen Monat schon so viele Ausgaben, die ich in den Club investiert habe und um Geschenke zu besorgen.“ „Wie man mit Geld umgeht, hab ich dir doch aber beigebracht oder?“, gab mein Vater leicht gereizt zurück. Ich blickte ihn mit meinem Rehaugen bettelnd an, doch die Antwort lautete: „Nein!“ „Danke für Nichts. Dann geh ich eben wieder zu Fuß!“ Wütend und beleidigt wie ein Erstklässler stand ich von meinem Stuhl auf, verließ die Küche und ging ohne ein Abschiedswort aus dem Haus.
Nach eineinhalb Stunden Fußmarsch kam ich mit blutenden Füßen in dem Krankenhaus an, in dem Julius lag. Zuerst einmal durfte ich mir eine kleine Standpauke von ihm anhören, warum ich ihn letzten Sonntag nicht besucht hatte. „Dieser Ort hier deprimiert mich, meine Krankheit deprimiert mich und die einzige Chance zur Aussicht auf Freude lässt mich links liegen!“ Er war sauer auf mich, enttäuscht natürlich auch und das zu Recht. Von Jack mit dem schneeweißem Haar erzählte ich aber lieber nicht, stattdessen erfand ich eine Notlüge, die mit dem Club zusammenhing. Er war zwar nicht begeistert, aber so konnte ich ihn zumindest fürs Erste besänftigen. „Wir haben voll den süßen Welpen aufgelesen und ich hab ihn auf den Namen Niko getauft. Herr West ist bereits in seine Hundekacke getreten und erst gestern hat er Lexi ans Bein gepinkelt. Das hättest du sehen müssen, das war so lustig!“, erzählte ich meinem besten Freund unter Lachen. „Ich wäre so gerne dabei…“, jammerte Julius und ich musste einsehen, dass seine Depressionen wieder stärker wurden. Zu Beginn seiner Krankheit meinte er zwar, er möchte über alles auf den Laufenden gehalten werden, damit sich sein Leben so normal wie möglich anfühlt, aber ich war mir nicht immer sicher, ob das die beste Idee war. Er verpasste so viel…, weil er an das Bett gefesselt ist. „Deine Mutter hat mir erzählt, dass es dir inzwischen ein wenig besser geht.“, sagte ich. „Ja, sie hat mir erzählt, dass ihr euch getroffen habt, aber das ist schon wieder eine Woche her. Mein Gesundheitszustand ist nach wie vor gefährlich.“, erwiderte Julius weiterhin deprimiert. „Du darfst nicht aufgeben!“, spornte ich Julius an. „Du musst fest daran glauben, dass du…“ Ich unterbrach meinen Satz, als ich das Wort „glauben“ in den Mund nahm. Glaube. Dieses Wort hat mir auch Jack ins Ohr geflüstert, doch was genau wollte er mir damit sagen. Meinte er das Wort im Zusammenhang mit Julius? Natürlich glaube ich daran, dass er wieder gesund wird, er muss! „Hallo? Bist du noch da?“, fragte Julius mich, der mit seiner rechten Hand vor meinem Gesicht herum wedelte. „Du wolltest mir gerade eine aufheiternde Predigt halten, die sonst nur meine Mutter hält.“ „Wie? Was?“, fragte ich völlig geistesabwesend. Julius schmunzelte. „Wo zur Hölle warst du denn gerade eben?“ Hölle traf es nicht ganz. Jacks Worte hallten mir auch nach einer Woche noch im Ohr nach – „Ich bin ein Engel!“ – Und so wie er aussah, hätte ich ihm das damals sogar fast abgekauft. „Entschuldigung.“, sagte ich zu Julius, nachdem ich wieder im Hier und Jetzt ankam. „Ich hoffe du wirst bald wieder gesund. Bald ist Weihnachten und Snowboarden wollten wir auch noch gemeinsam.“ „Ja, aber bei dem Wetter verspür ich zu Beiden keine arg große Lust.“, meinte Julius und blickte zum trostlosen Wetter hinaus und zu den Bäumen, auf denen immer noch kein Schnee lag. „Weihnachten ohne Schnee ist wie Regen im Sommer und zeige mir einen, der ohne Schnee snowboarden kann.“ „In den Bergen liegt mit Sicherheit Schnee.“, erklärte ich Julius und so unterhielten wir uns die nächste Zeit darüber, was wir alles unternahmen, wenn er wieder gesund und auf den Beinen war.
„Ich bin wieder da!“, rief ich wie gewöhnlich durchs Haus, wenn ich gerade nach Hause kam. Es war bereits Abend und mein Vater – so schien es zumindest – erwartete mich bereits und rief mich zu sich und meiner Mutter ins Wohnzimmer. Etwas störte mich an seinem Verhalten. Er war auffällig ruhig und seine Laune von heute Morgen war nicht gerade besser geworden. Auch meine Mutter schaute finster drein. Hatten sie sich den ganzen langen Tag über weiter gestritten? Ich setzte mich also in den Sessel, während meine Eltern auf dem Sofa mir gegenüber saßen und mich eingehend musterten. „Was ist los?“, fragte ich schließlich. „Ist Weihnachten abgesagt?“ „Wir fragen dich das nur einmal und bitte… bitte lüg uns nicht an und sag uns die Wahrheit.“, sagte mein Vater im ernsten Ton. So wie er sprach, schien wirklich etwas vorgefallen zu sein, doch war ich mir keiner Schuld bewusst, also saß ich weiterhin lässig im Sessel. „In der Haushaltskasse fehlen fünfzig Euro und weder deine Mutter noch ich haben daraus etwas entwendet. Du hast mich heute Morgen nach Geld für den Bus gefragt und ich habe Nein gesagt. Hast du dir also unerlaubterweise Geld aus der Kasse genommen?“ Ich starrte meine Eltern an, als wären sie verrückt geworden. Verdächtigten die mich gerade allen Ernstes des Diebstahls?! „Antworte bitte Lukas!“ „N-nein…, ich habe kein Geld entnommen. Das würde ich ohne zu fragen niemals tun!“, antwortete ich mit erschrockener Stimme. Das meine Eltern sowas auch nur denken konnten. „Du bist heute Morgen ziemlich wütend abgehauen.“, meinte meine Mutter daraufhin. „Ich war das nicht!“, betonte ich nun extra laut, da ich nun langsam wirklich wütend wurde. „Was ist denn hier los?“, fragte Lena, als sie leise das Wohnzimmer betrat. Ihre Augen waren verquollen. Sie hatte offensichtlich geweint und den Grund dafür würde sie uns sicher gleich sagen. „Schatz, was ist denn los?“, fragte meine Mutter sie nun mit besorgter Stimme und mütterlicher Liebe, die ich mir hin und wieder auch mal von ihr wünschte. „Du bist ja völlig aufgelöst, Lena.“ Meine Schwester schniefte in die Schulter unserer Mutter, während sie uns von ihrem Kummer berichtete: „Christoph kommt nun doch nicht über die Weihnachtsfeiertage nach Hause. Angeblich weil er so viel zu tun hat… Ich hab ihm gesagt, wenn er nicht kommt, braucht er gar nicht mehr zu kommen und dann habe ich unser Skype-Gespräch beendet.“ „Oh Schatz, das tut mir so leid.“, meinte meine Mutter mitfühlend zu ihr. „Lukas, geh bitte rauf in dein Zimmer. Wir sprechen ein andersmal weiter.“, sagte mein Vater und ohne ein Wort marschierte ich aus dem Wohnzimmer hinaus. Ich erreichte gerade die Treppe in den ersten Stock, als ich Sebastian und Sarah dabei erwischte, wie sie uns die ganze Zeit über belauscht hatten. Als die Beiden mich kommen sahen, erschraken sie furchtbar und rannten zurück in ihr Zimmer. Ihr Verhalten war schon den ganzen Tag über sehr komisch und ich beschloss der Sache auf den Grund zu gehen, doch erstmal wollte ich mich ein wenig in meinem Zimmer ausruhen… und für eine morgige Prüfung musste ich schließlich auch noch lernen.
Kapitel 5: 4.Advent, das vierte Lichtlein brennt „Wenn du noch länger damit wartest, dann seid ihr alt und grau und sitzt beide ohne Gebiss im Altersheim.“, sagte meine Schwester Lena zu mir, nachdem das Thema Outing wieder zur Sprache kam. Ich hatte es immer noch nicht geschafft, mich vor Julius zu outen. Wieso fiel mir das nur so schwer? Er ist mein bester Freund, er wird es verstehen… oder?! „Wenn wir so alt sind, wie du sagst, dann hört er es vielleicht eh nicht mehr, wenn ich es ihm sage.“, gab ich ironisch zurück. Ich versuchte die Sache lockerer zu sehen, was gar nicht so leicht war. Ich versuchte das Thema zu wechseln, doch die Sprache auf Christoph zu bringen, erschien mir auch nicht der richtige Weg. Lena war noch immer traurig darüber, dass er über Weihnachten nicht nach Hause kam. Also brach ich ein anderes Thema zur Sprache: „Ich glaube ich weiß jetzt, wer Geld aus der Haushaltskasse geplündert hat. Ich hab zwar keine Beweise, aber die brauche ich unter Umständen auch gar nicht, denn die Diebe meinten es vermutlich gar nicht so böse…“ „DIE Diebe? Es war mehr als nur einer?“, fragte mich meine Schwester überrascht und ich lächelte.
Kurz darauf betrat ich das Kinderzimmer meiner kleinen Geschwister. Sebastian spielte gerade mit seiner Miniatureisenbahn, während Sarah mit ihren Puppen eine Tee-Party veranstaltete. „Hey ihr Beiden, kann ich mal kurz mit euch reden?“, fragte ich sie und setzte mich zu ihnen auf den Spieleteppich. „Ihr habt sicher mitbekommen, dass der Haussegen gerade etwas schief hängt, oder?“ Die Zwillinge nickten einvernehmlich, sagten aber keinen Ton. „Unsere Eltern denken, dass ich Geld aus der Haushaltskasse entwendet habe. Diese Anschuldigung macht mich ziemlich traurig.“ „Wir wollen nicht, dass du traurig bist Lukas.“, sagte meine kleine Schwester Sarah ganz schnell. „Tja, ich wüsste aber nicht, wie ich wieder glücklich werden könnte.“, log ich. Ich gebe zu, meine Methoden sind nicht gerade die feinsten, aber der Zweck heiligte die Mittel. „Aber wir wissen es!“, meinte mein kleiner Bruder Sebastian, der seine Lokomotive zur Seite lag. „Denn wir haben das Geld genommen!“ Ich tat so, als wäre ich von dem Geständnis meiner Geschwister völlig überrascht. „Wir wollten Mummy und Daddy doch nur überraschen…“ „Mummy und Daddy meinten Weihnachten fällt vielleicht aus, da haben wir uns Sorgen gemacht. Sie waren so traurig, da wollten wir ihnen etwas ganz Besonderes schenken.“, fügte Sarah hinzu. „Wir haben es nicht böse gemeint.“, sagte Sebastian, der mich nun traurig ansah. „Werden Mummy und Daddy arg böse auf uns sein? Müssen wir nun in einen Kerker?“ Ich schmunzelte. „Kommt mal her ihr Beiden.“ Ich nahm meine beiden kleinen Geschwister in die Arme und drückte sie ganz liebevoll an mich. „Das was ihr gemacht habt, war zwar nicht okay, doch ihr habt es ja nur lieb gemeint, also Schwamm drüber. Ich sag unseren Eltern, dass ich das Geld entwendet habe und dann kommt alles wieder in Ordnung. Ich bin deswegen nicht mehr traurig!“
Nachdem sich das Problem mit dem gestohlenen Geld quasi von selbst gelöst hatte, war ich auch frohen Mutes, dass ich mein Coming-out vor Julius endlich über die Bühne brachte. Ich wollte nicht bis Weihnachten warten, um es ihm zu sagen und bestimmt wollte ich die Last auch nicht mit ins nächste Jahr reinschleppen. Also befand ich mich wieder einmal auf dem Weg ins Krankenhaus und heute wurde ich sogar von meiner Schwester Lena dorthin kutschiert. „Dank dir, Schwesterherz!“ „Ich wünsch dir viel Glück… du wirst es brauchen.“, meinte Lena kichernd. „Haha, du mich auch.“, erwiderte ich gekränkt. Fehlte nur noch „Wird schon schief gehen“. Ich verabschiedete mich von meiner Schwester und stieg aus dem Auto aus. Danach schlurfte ich durch den Haupteingang ins Krankenhaus, wobei mir mit jedem Schritt mein Herz mehr und mehr in die Hose rutschte. Jetzt war ich richtig nervös, doch den Schwanz einziehen war nicht. Ich klopfte zweimal kräftig an seiner Zimmertür und als ich eintrat, lag Julius etwas erschöpft in seinem Bett. Seine Mutter war ebenfalls zu Besuch, doch war sie so freundlich, uns Beide ein wenig alleine zu lassen. „Ich gönn mir derweil eine Tasse Kaffee in der Mensa. Bis später.“, sagte sie freundlich und schon war sie auch bei der Tür draußen. Wäre sie länger geblieben, hätte ich es mir mit meinem Outing vielleicht doch noch einmal anders überlegt. So ein Outing ist echt nicht leicht… „Was ist los mit dir? Du schaust aus, als würdest du dir gleich in die Hose pinkeln.“, meinte Julius, der nach zehn Minuten zu Recht fragte, was mit mir los sei, da ich mich unaufhörlich im Raum bewegte. „Ja also die Sache ist die…“ Meine Gedanken sprachen wieder zu mir: Ganz schlechter Anfang Lukas. Fiel dir kein besserer ein? „Es gibt da etwas Wichtiges, was ich dir sagen möchte…“ „Dann sag es doch endlich und spann mich nicht weiter auf die Folter.“, lachte Julius. „Du solltest Medizin studieren und Arzt werden, die brauchen auch ewig, bis sie zum Punkt kommen.“ „Bring mich nicht zum Lachen, das hilft mir gerade überhaupt nicht weiter.“, sagte ich leicht lächelnd, obwohl ich versuchte ernst und seriös zu wirken. „Ich möchte dir etwas Wichtiges sagen – etwas was mich betrifft, aber irgendwie auch uns Beide, weil ich nicht will, dass du ein falsches Bild von mir bekommst. Ich habe es dir lange genug verschwiegen und ich hoffe, du hasst mich deswegen nicht…“ „Luuuukas, komm zum Punkt!“, betonte Julius laut, während er zu husten anfing. „Na gut. Wie du willst. Dann sag ich es jetzt. Hier…, während ich vor dir stehe und du im Bett liegst. Fuck… kommt das wie eine Anmache rüber? Ach egal, Jules ich bin schwul und steh auf Jungs… gut, schwul sein bedeutet auch auf Jungs zu stehen, das hätte ich wohl nicht extra betonen müssen… J-Jules?!“ Etwas stimmte auf einmal ganz und gar nicht. Julius fing an wild um sich zu schlagen und zu hecheln. Es schien fast so, als würde er keine Luft mehr bekommen und ich bekam es mit der Panik zu tun. Sofort drückte ich den Notschalter, damit ein Ärztetermin hier erschien. In der Zwischenzeit versuchte ich Julius irgendwie zu stabilisieren, ihm zu helfen, irgendwie…! Das Ärzteteam stürmte in das Zimmer und kurz darauf kam auch Frau Bruck im höchsten Maße besorgt herein gestürmt. „Was ist mit ihm? Was geschieht hier? So helfen Sie ihm doch bitte!“ Völlig hilflos standen Frau Bruck und ich daneben. Mir waren die Hände gebunden und zu allem Übel, ging Frau Bruck dann auch noch auf mich los: „Was hast du getan? Was hast du ihm angetan?!“, schrie sie panisch und ängstlich. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Was hab ich nur getan…?!
Ich stand völlig neben mir. Julius in Lebensgefahr! Ich musste raus, sofort! Wie durch Geisterhand schwebte ich aus dem Krankenhaus. Ich hätte es keine Sekunde länger mehr darin ausgehalten. Die Sorge um Julius schnürte mir die Luft zum Atmen ab. Um mich herum drehte sich alles und ich wäre umgekippt und ins feuchte Gras gefallen, hätten mich zwei Arme nicht aufgefangen. Ich konnte nicht mehr viel erkennen, doch der blaue Pullover kam mir sofort vertraut vor. Es war Jack! Jack ging mit mir ein Stück des Weges, doch wusste ich eigentlich gar nicht wohin er mich führte. Ich folgte ihm einfach bedenkenlos. Ich schenkte ihm mein Vertrauen, wusste allerdings nicht einmal warum ich dies tat. In seiner Nähe fühlte ich mich frei und geborgen, dabei kannte ich ihn gar nicht. Als ich wieder etwas klarer denken und sehen konnte, erkannte ich, dass Jack mich in eine kleine Kapelle brachte, in der gerade himmlische Weihnachtsmusik gespielt wurde. Ich war zwar nicht sehr religiös und glaubte nicht an Gott und Gebete, aber diese Kapelle war trotzdem sehr schön. Es herrschte eine sehr stille Atmosphäre. Ein Kinderchor stand vor dem Altar und sang ein Lied. Ich hörte ihnen aufmerksam zu und konnte mich für kurze Zeit von all meinen Lasten befreien. „Wieso hast du mich hierher gebracht, Jack?“, fragte ich den mir immer noch völlig fremden Jungen. „Weil ich diesen Ort sehr schön finde.“, antwortete Jack mir. „Du musst wissen, dass ich Kirchen, Gottesdienste und alles was dazu gehört eigentlich hasse, aber dieser Ort hier… er wirkt befreiend. Findest du nicht? Immer wenn ich hierher komme, fühlen sich meine Seele und mein Herz leichter. „Es ist wirklich sehr schön hier.“, pflichtete ich ihm bei und sah mich noch genauer in der Kapelle um. „An was glaubst du, Lukas?“, fragte Jack mich und diese Frage überraschte mich irgendwie. Sie kam so abrupt, dass ich darauf keine Antwort wusste. Jack lächelte mich von der Seite her an, doch auch er schwieg. Stattdessen hörten wir weiterhin den Klang und den Gesang des Kinderchors. Nach einer Weile senkte ich meinen Kopf und legte ihn auf Jacks rechter Schulter ab. Das mag vielleicht unverschämt von mir sein, aber ich benötigte diese Zuwendung gerade. Ich schloss meine Augen und lauschte der Musik. Meine Gedanken waren bei Julius… und womöglich auch meine Gebete.
Ich weiß nicht mehr wie ich nach Hause kam, geschweige denn wo Jack abgeblieben war, doch plötzlich stand ich spätabends vor meiner eigenen Haustür. Mein Vater öffnete mir die Tür und nahm mich in seine Arme. Sie alle hatten sich Sorgen um mich gemacht. „Mein armer Großer.“, schluchzte meine Mutter und endlich kam auch ich in den Genuss ihrer Mutterliebe. „Deine beiden kleinen Geschwister haben ihren Diebstahl gestanden.“, berichtete mein Vater mir. „Tut uns wirklich leid, dass wir dich verdächtigt haben. Lena schritt langsam auf mich zu, denn sie hatte etwas zu sagen: „Lukas…, Frau Bruck hat uns vor drei Stunden angerufen. Julius… er.. er ist…“ Oh nein, bitte nicht!
Kapitel 6: Heiligabend – Stille Nacht, wundersame Nacht Ich lag seelenruhig auf meinem Bett, mit dem Gesicht zur Decke gewandt, als mein Handy auf dem Nachtkästchen zu vibrieren begann. Ein Anruf von Lexi. Es war Heiligabend, also wollte ich höflich sein und ging ran, auch wenn mir alles andere als reden zumute war. „Hey Lukas. Wie geht es dir?“, fragte sie mich das Übliche und ich murmelte ihr etwas entgegen. „Falls du später noch Lust hast, kannst du ja im Clubhaus vorbei schauen. Herr West feiert eine große Weihnachtsparty. Niko ist schon ganz aus dem Häuschen und Arti hat glaub ich schon mehr als drei Gläser intus. Wir würden uns alle jedenfalls sehr freuen wenn du kommst.“ Ich musste ihr versprechen, dass ich es mir überlegen würde, doch war ich mir zu hundert Prozent sicher, dass ich dort nicht hingehen würde. Menschenmassen waren das Letzte, wonach mir momentan zumute war. „Lukas, Oma ist da und die Gans ist auch bald fertig. Kommst du bitte runter!“, rief meine Mutter von unten in mein Zimmer herauf. Ich bewegte also meinen faulen Hintern und ging nach unten.
„Warum ist Daddy denn nicht da?“, fragte Sarah unsere Mutter und auch ich wunderte mich, dass unser Vater noch immer nicht Zuhause war. Naja, immerhin hatte er es geschafft, gestern noch einen Weihnachtsbaum zu besorgen, was zumindest meine Mutter wieder milder stimmte. „Er verspätet sich etwas. Er meinte, er hat eine große Überraschung.“, antwortete meine Mutter und schmunzelte dabei ganz verschmitzt. Hier war schon wieder etwas im Busch, aber mir war das egal. „Und wie fandst du das Weihnachtsstück unserer Theater AG, Oma?“, fragte Lena, die unserer Oma ein Glas Kirschschorle reichte. „Es war wirklich schön.“, antwortete Oma ihr. „Am besten gefiel mir die Szene, als einem der heiligen drei Könige die Krone runter rutschte und auf den Darsteller fiel, der sich als Schaf verkleidet hatte. Sabine, ich bin zwar weiß Gott nicht die geborene Kochexpertin, aber das die Gans raucht ist nicht normal oder?“, wunderte sich Oma und ich konnte mir das Lachen nur schwer verkneifen. Meine Mutter rannte erschrocken zum Ofen und als sie ihn öffnete, qualmte es derart, dass wir uns alle schnell ins Wohnzimmer zurückzogen. „Lena, machst du bitte ein Fenster auf.“, bat meine Mutter meine Schwester, doch der Qualm war so stickig, dass jeder bereits zu Husten anfing. „Die Gans ist mir zu knusprig, da beiß ich mir ja meine übrig gebliebenen Zähne aus.“, meinte meine Oma mit sarkastischer Stimme. „Kennt vielleicht jemand einen guten Pizzaservice?“ „Nur keine Panik, mir fällt schon was ein.“, versuchte meine Mutter uns alle zu beruhigen. Doch auf einmal ging das Licht im ganzen Haus aus und sogar die Lichterkette am Christbaum erlosch. „Dafür auch…?“ fragte meine Oma weiterhin sarkastisch. „Ähm… das war wohl die nichtbezahlte Stromrechnung.“, schlussfolgerte meine Mutter. „Fällt Weihnachten jetzt etwa aus?“, fragte der kleine Sebastian erschüttert. „Nein, nein, keine Sorge. Uns wird sicher gleich etwas einfallen.“, meinte Lena, die versuchte die Zwillinge zu beruhigen. Doch eine Idee musste schnell her, also schlug ich meiner Mama vor, dass wir doch alle in den Club fahren könnten, da es dort viel Wärme und reichlich zu essen gab. „Packt alle Geschenke ein. Wir fahren in den CODA-Club.“, entschied sich meine Mutter. „Ich schreib eurem Vater nur noch schnell eine SMS, damit er weiß wo wir stecken.“
„Wir wünschen euch Frohe Weihnachten, wir wünschen euch Frohe Weihnachten, wir wünschen euch Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!“, hörte ich es aus meinem Clubgebäude singen, als ich mit meiner Familie dort ankam. Herr West begrüßte uns mit Freuden und auch Lexi war hellauf begeistert, dass ich nun doch noch kam. Am meisten freute sich aber der kleine Niko, der mit rausgestreckter Zunge auf mich zu rannte und dabei voller Freude mit seinem Schwanz wedelte. „Freut mich sehr, endlich die Mutter dieses liebenswerten Jungen kennen zu lernen.“, sagte Arti, der meine Mutter mit einem Händeschütteln begrüßte und ihr eine weiße Rose überreichte. „Mein Bruder kann zwar ein ziemlicher Taugenichts sein, aber ausnahmsweise hat er wohl mal etwas richtig gemacht.“, sagte Lena, die mich zu necken versuchte, doch prallte dies kalt bei mir ab. Nachdem wir lecker und ausführlich am Weihnachtstisch der CODA gespeist hatten, fragte Sarah unsere Mutter: „Dürfen wir jetzt unsere Geschenke auspacken, Mummy?“ Meine beiden kleinen Geschwister bekamen die Erlaubnis und sofort machten sie sich über ihre Geschenke her. In der Zwischenzeit kam auch mein Vater endlich herein geschneit, doch kam er nicht alleine. „Seht mal wen ich euch mitgebacht habe!“, sagte er vergnügt. „Christoph!“, stieß Lena erfreut aus, sprang ihrem Freund in die Arme und drückte ihm einen langen und leidenschaftlichen Kuss auf den Mund. Die Zwillinge machten Gesichter, als müssten sie sich bei dem Anblick übergeben. Ich hingegen freute mich für meine große Schwester. „Hast du wirklich gedacht, mein Studium in Amerika wäre mir wichtiger, als hier mit dir und deiner Familie Weihnachten zu feiern?“, fragte Christoph meine Schwester. „Ich liebe dich, Lena!“ „Ich hab ihn dir zuliebe vom Flughafen abgeholt, als Weihnachtsüberraschung quasi.“, erklärte unser Vater Lena. „Sein Flug hatte Verspätung, deshalb sind wir so spät dran, aber deine SMS habe ich erhalten Schatz. Hast du wirklich die Gans schwarz werden lassen?!“ „Lukas?“, meine beste Freundin Lexi stupste mir von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich zu ihr um. „Das, was am Sonntag im Krankenhaus passiert ist, muss sicher schlimm für dich gewesen sein. Das war sicher nicht schön, aber jetzt ist alles gut. Sieh mal, wer heute da ist.“ Ich traute meinen Augen kaum. Frau Bruck kam zur Tür reinstolziert und schob einen Rollstuhl vor sich her, in dem kein geringerer als mein bester Freund Julius saß. Nach dem Schock im Krankenhaus, hatte ich schwere Schuld auf mich geladen. Das hätte einfach nicht passieren dürfen. Ich war überglücklich ihn heute hier zu sehen, doch auch besorgt wegen seiner Gesundheit. „Du?!“ „Ich!“, gab Julius lächelnd zurück. „Und komm mir jetzt bitte nicht damit, dass dieser Ausflug hierher zu gefährlich für meine Gesundheit wäre, denn diese Diskussion führte ich bereits lang und breit mit meiner Mutter, aber nicht einmal sie kann mich ans Bett binden, wenn ich dich sehen will.“ „Er wollte einfach nicht auf mich hören.“, erklärte Frau Bruck mir. „Doch heute ist Weihnachten…, ich konnte ihm diesen Wunsch einfach nicht abschlagen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei dir auch noch für mein Verhalten im Krankenhaus entschuldigen, Lukas. Ich war… verängstigt.“ „Schon in Ordnung, Frau Bruck. Julius geht es ja wieder besser und sie haben mir eine große Freude bereitet, dass sie ihm erlaubt haben, hierher zu kommen. Das schönste Geschenk überhaupt!“ Herr West klimperte mit einem Dessertlöffel gegen sein Glas. Es war Zeit für seine weihnachtliche Ansprache: „Danke, dass ihr alle so zahlreich erschienen sind. Weihnachten könnte nicht schöner sein, als gemeinsam mit so vielen wundervollen Menschen gemeinsam zu feiern. Für mich ist Weihnachten jedes Jahr etwas Besonderes, denn ich glaube an den Geist von Weihnachten und an die Wunder die er vollbringen kann. Ja ich glaube daran, denn vor vielen Jahren kannte ich einen Jungen, dem sind die ungewöhnlichsten und wundersamsten Dinge passiert. Er war einer meiner Schüler und ein begnadeter Künstler. Sein reines Herz und seine Liebe haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin und der vor ihnen steht. Ihm haben wir es im Übrigen auch zu verdanken, dass es diesen Club überhaupt gibt. Doch genug der langen Worte. Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Wunder und genau dieses Gefühl verspür ich heute, hier und an dieser Stelle. Vielen Dank und ich wünsche ihnen allen Frohe Weihnachten!“ Die Menschen im Club klatschten Beifall, während der kleine Niko auf und ab hüpfte und dabei gelegentlich ein Bellen von sich gab. Noch bevor sich der ganze Tumult legte, hörte ich eine sanfte Stimme in mein Ohr flüstern. „Ich habe das Gefühl, dass du nun weißt, an was du glaubst. Hab ich Recht?“ Ohne mich umzudrehen, antwortete ich der Person mit einem zufriedenen Lächeln. „Ja, das weiß ich wirklich. Ich bin da völlig auf der Seite von Herr West. Wie er, glaube auch ich an den Geist von Weihnachten und deren Wunder und ich glaube ich bin ihm sogar begegnet.“ Ich hörte, wie Jack zu lachen anfing. Es gab keine Widerworte von ihm, was mein Verdacht nur verstärkte. „Jack, wer bist…“ Ich drehte mich um, doch außer einer kahlen Wand war da nichts. „….du?“ „Hm? Mit wem redest du?“, fragte Julius mich, dem mein merkwürdiges Verhalten nicht entging. „Ach mit niemanden.“, log ich, da ich dies für das Beste hielt. „Übrigens…“, setzte Julius zu einem anderen Thema an. „Danke, dass du so ehrlich zu mir warst. Ich hab mich schon gefragt, wann du endlich mit der Sprache rausrückst.“ „Wie bitte? Hast du etwa gewusst, dass ich schwul bin?“, fragte ich nun verwirrt. „Ein kleiner Tipp: Wenn Lexi ein Geheimnis kennt, dann kennen es schon sehr bald alle, denn auch wenn sie es nie böse meint, so ist ihr Mundwerk doch schneller als ihr Hirn.“ Ich grummelte vor mich hin. Typisch Lexi. Doch Schwamm drüber. „Und was denkst du nun von mir?“ „Was soll ich denn deiner Meinung nach von dir denken? Du bist mein bester Freund, Lukas!“, antwortete Julius mir mit einem zauberhaftem Lächeln. „Du bist mein Freund und das wirst du für immer sein.“ Mir fiel ein großer Stein vom Herzen und ich war so glücklich über seine Worte, dass ich ihm regelrecht um den Hals fiel, obwohl er im Rollstuhl saß. Julius war das allerdings etwas unangenehm. „Sollte ich aber jemals deine Hand in meiner Hose spüren, dann knall ich dir eine!“, drohte er mir grinsend an und ich lächelte frech zurück.
Epilog: Alle Menschen waren heute glücklich und zufrieden, sofern man das von sich behaupten konnte. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn Julius gesund geworden wäre, aber die Hoffnung darauf war ja immer noch gegeben und ich glaubte einfach weiterhin ganz fest daran. Doch etwas anderes beschäftigte mich aktuell viel mehr. Wo war Jack abgeblieben? Ich wollte mich bei ihm für seine Unterstützung bedanken. Ich suchte den ganzen Saal nach ihm ab, doch von ihm fehlte jede Spur. Da warf ich einen kurzen Blick aus dem Fenster und entdeckte ihn im Hof, wie er stramm dastand, als ob er auf etwas oder jemanden warten würde. Ich beschloss sofort zu ihm runter zu gehen, also warf ich mir Mantel, Mütze und Schal über und rannte los. Es war trotz fehlendem Schnee sehr kühl draußen. Bei jedem Atemzug bildete sich ein weißer Nebel und als ich vor Jack stand, fühlte ich mich wieder wie festgefroren. „Du willst doch nicht etwa abhauen, ohne dass ich mich bei dir bedanken konnte, oder?“, fragte ich ihn, ohne eine Spur der Furcht. „Nein natürlich nicht, schließlich hab ich hier auf dich gewartet.“, erwiderte Jack lächelnd. Ich musterte ihn genau, denn seine eisblauen Augen funkelten in der Nacht und sein schneeweißes Haar leuchtete heller wie Sonnenschein. „Du sollst Zeuge des Weihnachtszaubers werden, Lukas!“ „W-Warte! Was hast du vor?“, fragte ich ihn nun doch leicht verängstigt und beunruhigt. Jack antwortete mir nicht. Stattdessen richtete er seinen Blick nach oben in den Himmel, von dem wie aus dem Nichts weiße Schneeflocken herabfielen. Ich streckte meine Hände aus und fing ein paar Schneeflocken in meiner Hand auf. Endlich schneite es! „Jack, das ist wunderbar!“, rief ich euphorisch. Auf einmal stand Jack vor mir und noch ehe ich wusste was geschah, schenkte er mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Es fühlte sich nicht kalt an, sondern angenehm warm und weich. Dann löste Jack sich auf wundersame Art und Weise langsam in Schneeflocken auf und stieg in den Himmel empor. Mit Wehmut, aber auch mit Freude und Glückseligkeit blickte ich ihm hinterher. Der Boden bedeckte sich in der Zwischenzeit immer mehr mit Schnee und schon bald kamen auch alle anderen Menschen aus dem Club heraus. Die Zwillinge bauten sich einen Schneemann, Lena schmiegte sich Arm in Arm an ihren Christoph, Niko tollte im Schnee herum, Arti trank zur Feier des Tages ein Glas mit meiner Oma, meine Eltern gaben sich einen besinnlichen Kuss und auch Julius und seine Mutter waren trotz seiner Krankheit zumindest für diesen Abend glücklich und zufrieden. „Hier, ich glaube das hast du soeben verloren.“, sagte Lexi zu mir, die neben mir stand und mir eine Schneekugel überreichte, die zu meinen Füßen lag. Keine Ahnung wie die dahin gekommen ist, aber in der Schneekugel befand sich ein Junge mit schneeweißem Haar und einem blauen Pullover. Ich lächelte sanft. „Der Junge ist bildhübsch.“, merkte Lexi an. „Wer das wohl sein mag…“ Ich schüttelte die Schneekugel und antwortete: „Es ist der Geist von Weihnachten!“
ENDE!
Morgen startet die Fortsetzung: "Eine neue Weihnachtsgeschichte"!
Prolog: "Last Christmas" „Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Abend! Ich befinde mich hier heute im berühmten Clubhaus der „Community of Dreaming Artist“ – kurz CODA genannt. Dieses Clubhaus wurde vor über sieben Jahren gegründet und hat sowohl Höhen als auch Tiefen überlebt. Mein Name ist Eva Cassidy vom Radiosender „TripleLive“ und habe nun die Ehre, mit einem Mitglied der CODA zu sprechen, der bereits viel für den Club und deren Menschen unternommen hat. Bitte begrüßen Sie alle mit mir: Lukas Hader!“ Die Radiomoderatorin hielt für einen kurzen Moment inne und ich begrüßte alle Zuhörer durch ein Mikrofon, das vorher an mir angebracht worden war. Dann stellte Miss Cassidy ihre erste Frage an mich: „Lukas, wie alt bist du aktuell?“ „Ich bin vor ein paar Wochen zwanzig Jahre alt geworden.“, antwortete ich höflich. „Was waren deine Beweggründe, der CODA beizutreten?“, fragte Miss Cassidy weiter. „Das dürfte in meinem ersten Semester gewesen sein, also vor gut über einem Jahr.“, sagte ich und erinnerte mich zurück an die damalige Zeit. „Meine zwei besten Freunde und ich gingen schon zusammen zur Schule und hatten auch dieselben Interessen. So kam es, dass wir auch dasselbe studieren wollten. Lexi, meine Freundin, überredete uns schließlich dazu diesem Club beizutreten, da hier so viele tolle Menschen seien und wir Gutes bewirken könnten.“ „Und ihr habt wahrlich Gutes geleistet.“, pflichtete die Radiomoderatorin mir bei. „Letztes Jahr habt ihr Obdachlosen Schutz vor der Kälte geboten, indem ihr ihnen ein Dach über den Kopf und warmes Essen geschenkt habt. Das zeigt deutlich, dass Sozialverhalten ganz vorne bei der CODA steht.“ „Ja, das war letztes Jahr zu Weihnachten. Ich hab davon schöne Erinnerungen, aber auch weniger schöne…“, sagte ich mit einem Lächeln im Gesicht, das zugleich von Trauer geplagt wurde. „Ist denn auch etwas Schlimmes vorgefallen?“, fragte Miss Cassidy vorsichtig nach. „Mein guter Freund Julius… er wurde schwer krank und musste ins Krankenhaus. Für eine kurze Zeit dachte ich, ich würde ihn wirklich verlieren, aber zum Glück ging alles gut und ich konnte mit ihm an Heiligabend zusammen sein.“ Miss Cassidy setzte ein verschmitztes Lächeln auf. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben dürfte, das klingt beinahe so, als würde dein Freund dir sehr viel näher stehen.“ Ich machte ein überraschtes Gesicht. „Es ist okay, wenn du nicht darüber reden willst, ich dachte nur, denn es wäre völlig in Ordnung wenn zwischen euch Beiden mehr laufen würde, denn schließlich sind die Gründer der CODA ebenfalls homosexuell und sogar verheiratet. Grüße übrigens an die Zwei, die heute leider nicht hier sein können!“ „Es ist nicht so, dass ich nicht darüber reden möchte, aber Julius und ich waren schon immer nur gute Freunde. Ich hege also keine tiefer gehenden Gefühle für ihn, auch wenn er gut aussieht, dass gebe ich zu. Zudem gab es damals einen ganz anderen Jungen, der mir Herzklopfen bereitet hat.“ „Dürften die Zuhörer und ich auch den Namen dieses Verehrers erfahren?“ „Jack. Sein Name war Jack!“, antwortete ich mit einem traurigen Lächeln und Erinnerungen an den Geist von Weihnachten kamen in mir hoch. Ich vermisse Jack… und ich hoffte sehr, dass ich ihm dieses Weihnachten wieder begegnete!
Kapitel 7: Let It Snow, Let It Snow, Let It Snow" Heute war der erste Dezember und als ich müde aus meinem warmen Bett ausstieg, die Vorhänge zur Seite zog und zum Fenster rausschaute, konnte ich die ersten Schneeflocken vom Himmel herabfallen sehen. Schnee. Winter. Weihnachten stand vor der Tür. Endlich! Als wäre ich auf einem Ecstasy-Trip machte ich mich für den heute bevorstehenden Tag fertig. Ich rannte die Treppe runter und in die Küche, wo mir ein genüsslicher Kaffeegeruch durch die Nase zog. Meine Eltern waren schon auf den Beinen, denn sie mussten zur Arbeit, nachdem sie meine Geschwister, die Zwillinge, zur Schule fuhren. Für mich war der heutige Tag ein weiterer Tag auf der Uni, auf der ich für meine bevorstehende Zukunft vorbereitet wurde und meine Freunde traf. Doch das war nicht der Grund, warum ich heute frohen Mutes aus dem Bett gekrochen kam und mich mit einem breiten Grinsen an den Frühstückstisch setzte. Meinen Eltern entging mein Dauergrinsen natürlich nicht. „Du meine Güte. Hast du im Lotto gewonnen, oder warum bist du so fröhlich?“, fragte mich meine Mutter. „Also wenn du im Lotto gewonnen hast, dann kannst du mir ja die hundert Euro zurückgeben, die du mir ohnehin noch schuldest.“, meinte mein Vater gelangweilt zu mir. „Wer hat im Lotto gewonnen?“, fragte meine kleine Schwester Sarah, die zusammen mit meinem kleinen Bruder noch ganz verschlafen die Küchen betraten. Beide trugen noch ihre Pyjamas und Sebastian rieb sich müde seine Augen. „Euer Bruder ist stinkreich geworden.“, erklärte mein Vater den Zwillingen belustigt. „Oh cool. Schenkst du mir dann das neue Videospiel?“, fragte Sebastian mich ganz aufgeregt. „Ich habe nicht im Lotto gewonnen!“, entgegnete ich fuchsteufelswild, doch weiterhin lächelnd. Dann sagten meine Zwillinge etwas, was keiner erwartet hätte: „Hattest du Sex?“ Meiner Mum fiel das Geschirrtuch zu Boden, dass sie bis gerade eben noch in der Hand hielt. Mein Dad saß mit offenem Mund am Küchentisch, während er seine Kaffeetasse in der Hand hielt. Mir hingegen wurde die Unterhaltung zunehmend peinlich. „Ähm nein?“ „Aber Kinder, wo habt ihr denn dieses Wort aufgeschnappt?“, fragte meine Mutter schockiert. „Wir sind zehn und keine sechs.“, erklärte Sarah unserer Mutter erwachsen und Sebastian pflichtete ihr mit einem entschiedenen Nicken bei. „Die Jugend von heute wird immer frühreifer und unverschämter.“, sagte ich schmunzelnd. „Lenk nicht vom Thema ab, mein Sohn.“, sagte mein Vater bestimmend. „Stimmt es, was die Beiden da sagen. „Hattest du… hattest du wirklich… du hast also wirklich…?“ „Sex?“, beendete mein kleiner Bruder den Fragesatz unseres Vaters. „Äh…“ Schwierige Situation. „Wenn ich jetzt ja sage, würdet ihr ausrasten, aber wenn ich nein sage, würdet ihr mir das ohnehin nicht glauben und ebenfalls ausrasten. Folglich kann ich bei dieser Unterhaltung nur den Kürzeren ziehen.“, antwortete ich schließlich. „Doch die Wahrheit ist, ich hatte keinen Sex, ich wüsste nicht einmal mit wem, da ich keinen Freund habe – und One-Night-Stands ohne Gefühle kommen für mich nicht in Frage! Wenn ich jedoch Sex haben sollte – und das wird eines schönen Tages der Fall sein – würde ich es euch ganz sicher nicht auf die Nase binden.“ „Ich glaube er bekommt keinen hoch.“, hörte ich Sarah meinem Bruder zuflüstern. „KINDER! Jetzt ist es aber genug.“, zischte meine Mutter die Zwillinge lauthals an. „Wo schnappt ihr nur immer solche Wörter auf. Bringt man euch das heutzutage in der Schule bei?“ „Nein, aber wir hören dich und Papi hin und wieder darüber reden, wenn ihr euch in euer Schlafzimmer zurückzieht.“, meinte Sebastian und auf einmal wurden meine Eltern schamrot.
„Hahaha! Hahaha!“ Das Lachen meiner besten Freundin Lexi war in der gesamten Bibliothek der Uni zu hören. Während einer Pause hatte ich ihr von der Unterhaltung heute früh bei mir Zuhause berichtet und das war für sie natürlich der Knaller schlechthin. „Ich kann nicht mehr. Bitte hör auf! Mir tut schon der Bauch vor Lachen weh.“ Lexi versuchte sich zu beruhigen, doch fiel ihr das Atmen noch sehr schwer. Ich warf ihr einen grimmigen Blick zu, denn durch ihr lautes Gelächter zog sie die Aufmerksamkeit vieler Studenten und der Bibliothekarin auf uns, die uns ermahnte, leiser zu sein. „Das war sooo peinlich.“, sagte ich erneut und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Ja aber sag mal, weswegen bist du denn nun so glücklich gewesen, beziehungsweise bist du es immer noch?“, fragte mich ein Junge, der rechts von mir saß. Sein Name war Marcel Eppstein und ich lernte ihn erst in diesem Frühjahr kennen. Er war so alt wie ich und Lexi, war etwa einen halben Kopf größer als ich und besaß dunkelblondes Haar, das weder besonders lang noch kurz war. „Ach, nicht weiter wichtig.“, antwortete ich ihm, was natürlich eine Lüge war, aber die Wahrheit hinter meiner Fröhlichkeit war mir ebenfalls etwas unangenehm, wenn auch kein Vergleich zu den Sexvorwürfen, die mir meine kleinen Geschwister unterstellten. „Ich denke ich kenne den Grund.“, sagte Lexi, die sich endlich wieder zu fangen schien. Ich warf meiner besten Freundin einen bedrohlichen Blick zu, doch ihr Mund war wie ein Feuerwerk – es kam einfach rausgeschossen. „Letztes Jahr an Weihnachten lernte Lukas einen zauberhaften Jungen kennen, in den er sich Hals über Kopf verknallte. Doch kurz nach Heiligabend verschwand dieser Junge auf sagenhafte Art und Weise, lediglich eine Schneekugel blieb zurück, und seitdem hat er ihn nicht mehr gesehen. Er denkt, der Junge wäre der Geist von Weihnachten oder so gewesen und jetzt hofft er natürlich, dass er ihn dieses Jahr wieder sieht.“ „Wie oft muss ich dir das eigentlich noch erklären?!“, fragte ich Lexi aufgewühlt. „Ich denke nicht nur, dass er der Geist von Weihnachten ist, ich weiß dass er es ist. Ich habe doch mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er sich vor mir in Schneeflocken auflöste und in den Himmel flog.“ „Das klingt echt abgefahren.“, kommentierte Marcel dieses Erlebnis. „Keine Sorge Marcel. Lukas Fantasie ist grenzenlos und mit der Zeit gewöhnt man sich dran.“, sagte Lexi, die Jack für ein Hirngespinst meinerseits hielt. Sie dachte wohl, dass ich mit Jack einen Ersatz für Julius suchte, der inzwischen mit seiner Mutter in der Schweiz lebte. Dessen Krankheit war immer noch nicht überstanden, weshalb er in einer Spezialklinik nun genauer untersucht wurde. Julius war für mich natürlich immer nur ein guter Freund, dennoch musste ich zugeben, dass er mir sehr fehlte. Ich blickte zu einer Blume am Fenstersims, die ich in diesem Frühjahr zusammen mit ihm züchtete und dort vor seinem Abschied abstellte. Selbst im Winter blühte sie schön auf. „Denk doch was du willst.“, sagte ich gleichgültig über Lexis Meinung. „Kümmere du dich lieber um deinen lieben Yasin, in den du über beide Ohren verknallt bist.“ „Oh, das hätte ich ja beinahe vergessen.“, sagte Lexi, die sich sofort an die Stirn langte. „Ich hoffe wirklich, dass es ihm gut geht und er nicht schon wieder irgendwelche Probleme hat.“ Yasin war ein junger Araber, mit dem Lexi seit Juli eine Beziehung führte. Sie lernte ihn im Januar im CODA-Club kennen, da er einer der Menschen war, denen wir dort über den Winter Unterschlupf gewährten. Er war letztes Jahr nach Deutschland eingereist und versuchte seitdem eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Er will in Deutschland leben, unsere Sprache und unsere Gebräuche lernen, er will einen anständigen Job ausüben und Geld verdienen, um später einmal eine Familie zu gründen und sie zu finanzieren. Mit Lexi an seiner Seite hatte er jetzt zudem einen weiteren Grund, warum er hier bleiben möchte. Ich freute mich natürlich sehr für Lexi, dass sie endlich jemanden hatte, der sie so sehr liebte, wie sie ihn. Ihr war natürlich auch bewusst, welche Gefahren mit dieser Beziehung verbunden waren. Sollte Yasin nämlich abgeschoben werden, dann würde ihr Herz in tausend Teile brechen, es sei denn, sie würde ihn in sein Heimatland zurückbegleiten…, doch hoffte ich inständig, dass es niemals so weit kommen würde. „Hey Lukas!“ Ich entriss mich meinen Gedanken und wandte meinen Kopf zu Marcel, der mich neugierig musterte. „Alles in Ordnung? Du scheinst mit deinen Gedanken sonst wo zu sein.“ „Alles in bester Ordnung.“, antwortete ich ihm und fügte in meinen Gedanken noch hinzu: Zumindest wird es das sein, wenn ich Jack endlich wieder sehe und ihm sagen kann, wie sehr ich ihn vermisst habe und wie sehr ich mich in ihn verliebt habe.
Als ich spätabends wieder nach Hause kam, herrschte gewohnter Wochentrubel in unserem Haus. Die Zwillinge saßen auf dem Teppich im Wohnzimmer und sahen sich im Fernsehen noch eine ihrer Lieblingssendungen an. Vor ihnen lag Niko, unser Hund, den ich letztes Jahr auf der Straße aufgelesen habe und den wir anschließend bei uns aufnahmen. Meine Mutter stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor und auch mein Vater war schon von der Arbeit zurück und las gerade seine Post durch, die vor allem Rechnungen beinhaltete. Meine große Schwester Lena hingegen wohnte inzwischen nicht mehr bei uns. Sie war mit ihrem Freund Christoph zusammen gezogen, der nach seinem Auslandssemester in Amerika wieder in Deutschland lebte… und sie waren verlobt! An ihrem gemeinsamen Jahrestag machte Christoph meiner Schwester einen Heiratsantrag und sie nahm ihn voller Freude an. Unsere Eltern und auch Christophs Familie waren zwar noch etwas zwiegespalten über die Verlobung, doch letzten Endes war es die Entscheidung der Zwei und ihr Glück war uns allen das Wichtigste. Durch Lenas Auszug erhielten die Zwillinge endlich ihr jeweils eigenes Zimmer. Sarah zog in das ehemalige Zimmer von Lena und Sebastian blieb in dem Doppelzimmer, dass er sich bisher mit Sarah teilen musste. Beide sind schließlich keine kleinen Kinder mehr - hat man ja heute Morgen beim Frühstück gesehen - und brauchen ihren Freiraum. Ich zog mir die Schuhe aus und stellte meine Unitasche erst einmal am Treppengeländer ab. Als ich in die Küche marschierte, sagte meine Mutter: „Hallo Lukas. Na wie war die Uni?“ Ohne jedoch auf eine Antwort zu abzuwarten, redete sie weiter: „Auf dem Küchentisch liegt Post für dich!“ „Von Julius?“, fragte ich, während ich den Brief in meine Hand nahm. „Keine Ahnung, denn es steht kein Absender drauf.“, erklärte mir meine Mutter, was ich zugleich aber bereits selber feststellte, als ich das unbeschriftete Briefkuvert in Augenschein nahm. Lediglich „Für Lukas“ war darauf zu lesen. Demnach konnte der Brief nicht von der Post zugestellt worden sein. Ich öffnete schließlich das Kuvert und zum Vorschein kam ein kleiner Zettel, auf dem geschrieben stand: „Weihnachten, das Fest der Liebe und der Wunder! Willst du, dass ein Wunder geschieht, musst du folgendes Rätsel lösen: Schwebe auf Wolke Sieben und lass dich vom Wind berieseln.“ Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was dies zu bedeuten hatte und auch während des Abendessens kam ich nicht drauf. Als ich mich spätabends dann zu Bett begab, hatte ich es aufgegeben, weiter darüber nachzudenken. Ich legte den Brief zur Seite und nahm dafür einen ganz anderen Gegenstand zur Hand. Es war die Schneekugel, die mir Jack letztes Jahr an Weihnachten als Abschiedsgeschenk hinterließ und in der er selber zu sehen war. Ich schüttelte sie einmal und schon war das reinste Schneegestöber im Inneren der Kugel zu bestaunen. Ich lächelte kurz auf, ehe ich anschließend das Licht ausmachte, einschlief und von Jack träumte.
Kapitel 8: "White Christmas" Heute war der sechste Dezember und somit Nikolaus-Tag. Meine kleinen Geschwister waren schon ganz aus dem Häuschen und hüpften aufgeregt vor mir her, während wir ausgelassen über den Christkindlmarkt im Stadtpark am Dom schlenderten. Ich hatte meine Mutter versprochen die Zwillinge mitzunehmen, damit sie Zuhause ein paar Plätzchen backen und putzen konnte. Bereits davor hatten wir Drei mit jeder Menge Spaß und Tatendrang an einem Schneemann gewerkelt, der nun mit erhobener Krone in unserem Garten posierte. Auch meine Freunde Marcel und Lexi und ihr Freund Yasin waren mit uns auf dem Christkindlmarkt. Zudem würden wir uns gleich auch noch mit Lena und Christoph treffen. Lexi war schon ganz aus dem Häuschen wegen der bevorstehenden Hochzeit und fragte meine Schwester immer wieder, ob sie denn auch eingeladen wäre und ob sie dann Yasin mitbringen dürfte, damit er sah, wie eine deutsche Hochzeit vollzogen wurde. Laut Lexi war Yasin nämlich bereits ihr zukünftiger Mann. Junge Liebe – junges Glück. Doch was war eigentlich mit meinem Glück? Bisher noch keine Spur von Jack, doch wenn ich genauer darüber nachdachte, dann traf ich ihn letztes Jahr auch erst am Nikolaus-Tag. Würde ich ihm heute also endlich wieder begegnen? Ich hoffte es sehr und ich ging auch davon aus, dass der anonyme Brief von ihm kam. „Schwebe auf Wolke Sieben und lass dich vom Wind berieseln“, was immer das auch zu bedeuten hatte, bisher kam ich nicht hinter des Rätsels Lösung. „Vielleicht stammt der Brief ja auch von einem irren Psychopathen und möchte, dass du dein Leben beendest und dann anschließend in den Himmel fährst.“, scherzte Lexi mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus, nachdem sie sich zuvor auch jegliche Gedanken über das Rätsel gemacht hatte. „Ich lache wenn ich tot bin.“, gab ich ironisch zurück. „Ich das finde gar nicht so witzig.“, meinte Yasin in seiner nicht ganz so perfekten deutschen Aussprache. „Der Tod sein ernst und ihr damit nicht spaßen solltet.“ Daraufhin hörte Lexi auf dumme Sprüche zu reißen und fühlte sich plötzlich ganz klein. Yasin übte einen enorm guten Einfluss auf sie aus, wie ich fand, denn seitdem sie mit ihm zusammen war, hielt sie sich öfters mit unnötigen Kommentaren zurück. „Der Absender dieses Briefes wird sich vermutlich etwas dabei gedacht haben. Vielleicht kannst auch nur du dieses Rätsel lösen.“, meinte Marcel, der mir als Einziger mit hilfreichen Ratschlägen zur Seite stand. „Vielleicht darfst du das Rätsel auch nicht zu wörtlich nehmen und musst ein bisschen um die Ecke denken. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du in den Himmel empor steigen sollst.“ „Ja, das denke ich mir auch.“, erwiderte ich und kam daraufhin wieder ins Grübeln. Wir schlenderten weiter über den Christkindlmarkt und ich musste die Zwillinge stets im Auge behalten. Es war ein wunderschöner Abend, denn es schneite wieder ganz leicht vom Himmel herunter und bedeckte den Boden mit einer dünnen Schneeschicht. Auch in den kahlen Bäumen sammelte sich der Schnee, unter denen einzelne Buden errichtet worden waren. In diesen wiederum wurde weihnachtlicher Schnickschnack verkauft oder den Besuchern wurde Glühwein und etwas Warmes zu essen angeboten. Lexi blieb vor einer Bude stehen, in der eine ältere Frau selbstgestrickte Winterkleidung verkaufte. Marcel und ich gingen derweil ein paar Schritte weiter und blieben am größten geschmückten Weihnachtsbaum der Stadt stehen. Der Baum stand im Zentrum des Parks und war hell beleuchtet. Es war ein magischer Anblick, der mir ein zartes Lächeln ins Gesicht zauberte. Gleich daneben wurde eine Eisbahn errichtet, auf denen Kinder, Paare, Freunde und Familien Schlittschuh laufen konnten. Auf der anderen Seite des großen Weihnachtsbaums stand wiederrum ein großes Riesenrad, das das ganze Jahr über im Park stand. Es war ein Merkmal unserer Stadt und überaus sehr beliebt. In dem Riesenrad lernten Lexi und ich auch Marcel kennen. Wir waren damals zu zweit auf dem Frühjahrsmarkt im Park unterwegs, als Lexi vorschlug, doch eine Runde mit dem Riesenrad zu fahren und den herrlichen Ausblick zu genießen. Da noch Platz in unserer Gondel war, wurde uns noch eine weitere Person zugeteilt – Marcel. Er war damals alleine unterwegs, da er Fotos für ein Projekt in der Uni schießen wollte. Marcel studierte nämlich Fotografie und ich musste zugeben, dass er ein sehr talentierter Fotograf war. In der Gondel des Riesenrads kamen wir dann ein wenig ins Gespräch und Marcel zeigte Lexi ein paar seiner Fotos, die sie sehr bewunderte. Hinterher trafen wir ihn dann öfters in der Uni und so wurden wir schnell zu guten Freunden. Marcel an meiner Seite zu haben beruhigte mich zudem sehr, denn nachdem Julius fort war, konnte ich einen guten männlichen Gegenpart zu Lexi vertragen. Natürlich wurde er dann auch schon sehr bald eingeweiht, was meine Orientierung betraf. Er nahm es ganz gelassen entgegen und gab zudem gleich offen zu, dass er selber bisexuell sei, da sowohl Frauen als auch Männer für ihn gewisse Reize bereithielten. Erstaunt war ich darüber, dass sein Vater Pastor war und seinen Sohn akzeptierte wie er sei. Lexi versuchte daraufhin natürlich sofort, mich mit ihm zu verkuppeln, aber da stieß sie gegen eine Wand, denn mein Herz gehörte schließlich Jack – den ich heute Abend hoffentlich wieder sah. „Lukas! Lukas, hier sind wir!“ Ich hörte die Stimme meiner Schwester und als ich mich dorthin drehte, von wo die Stimme herkam, erblickte ich Lena zusammen mit Christoph, die gerade von der Eisbahn kamen. Sebastian und Sarah rennten sofort freudig auf unserer große Schwester zu, denn so oft bekamen wir sie leider nicht mehr zu Gesicht. Ich gönnte meiner großen Schwester ihr Glück von ganzen Herzen, sie hatte es sich verdient. Ohne ihren Beistand wüsste Julius vermutlich heute noch nicht, dass ich schwul bin. Herr im Himmel war das damals eine Outing-Tragödie! „Na alles fit, Lukas?“, fragte mich Christoph, der mir brüderlich den Arm zur Begrüßung reichte. „Ja alles gut. Ich hoffe bei euch auch?“, antwortete ich freundlich. „Alles gut, bis auf die Tatsache, dass Lena sich zu viel Stress wegen der bevorstehenden Hochzeit aufhalst. Dabei ist unser Termin erst im April.“, antwortete Christoph mir leicht gestresst. „Hallo? Das ist in weniger als fünf Monaten!“, stieß Lena säuerlich aus. „Lena hat vollkommen Recht!“, hörte ich Lexi rufen, die zusammen mit Yasin wieder zu uns dazu stieß und Lena freundschaftlich umarmte. „Die Hochzeit ist das wichtigste Ereignis im Leben einer Frau. Da muss alles wohl bedacht und gut durchplant sein, damit alles perfekt wird.“ „Pass auf Yasin, bist du erst einmal mit Lexi verheiratet, dann bist du für den Rest deines Lebens an sie angekettet.“, scherzte Marcel grinsend und handelte sich daraufhin einen bösen Blick von Lexi ein. „Wenn du allerdings abgeschoben wirst, dann bist du dem Teufel noch einmal entronnen!“ Das Thema „Abschiebung“ war natürlich nur halb so lustig, doch Yasin verstand natürlich die Ironie hinter dem was Marcel sagte. Lexi hingegen starrte Marcel weiterhin boshaft an. „Darf ich Blumen auf deiner Hochzeit verstreuen?“, fragte Sarah unsere große Schwester süßlich. „Natürlich darfst du das meine Kleine.“, antwortete Lena ihr lächelnd und streichelte ihr dabei über die Wollmütze, die sie auf ihren Kopf trug. „Was haltet ihr eigentlich von einem gemeinsamen Foto?“ „Au ja, vor dem tollen Weihnachtsbaum!“, rief Sebastian zugleich begeistert. „Das ist eine prima Idee.“, pflichtete Marcel ihr bei, der sofort seine Kamera unter seiner dicken Jacke hervorzog. Ohne seine Kamera war Marcel nie anzutreffen, denn er schoss bei jeder passenden Gelegenheit Fotos – sei es von Menschen, Tieren, der Natur oder interessanten Objekten. Lena, Christoph, Sebastian, Sarah, Lexi, Yasin und ich stellten uns gemeinsam vor dem großen und hell beleuchteten Christbaum auf und lächelten freudig in die Kamera. Gerade als Marcel den Abzug drückte, fing mein Handy in der Hosentasche zu vibrieren an. „Entschuldigt mich kurz.“, sagte ich, nachdem das Foto im Kasten war. Ich entfernte mich ein wenig von der Gruppe und blieb unter einem kleinen Baum stehen. Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus, als ich den Namen des Anrufers auf dem Display las. „Hey Jules, na wie geht es dir heute mein Schatz?“ „Ich geb dir gleich „mein Schatz“.“, hörte ich ihn mürrisch sagen, was zugleich ein Beweis dafür war, dass es ihm in der Schweiz offenbar gut zu gehen schien. „Ich hab deine Nachricht gelesen und dachte mir, ich ruf dich einfach mal an. „Du hast also einen Brief ohne Absender erhalten?“ „Ja. Ich nehme mal an, der ist nicht von dir?“, fragte ich ihn vorsichtshalber mal. „Ne sorry, ich schreibe heutzutage nur noch E-Mails oder SMS.“, erklärte Julius mir. „Ich hab mir aber Gedanken zu dem Rätsel gemacht, dass du mir geschildert hast und da kam ich eigentlich nur zu einem vernünftigen Entschluss.“ Nun hörte ich gespannt zu. „Derjenige, der dir diesen Brief geschrieben hat, muss dich ja kennen, demnach könnte „Wolke 7“ etwas mit der CODA zu tun haben. Das Gebäude der CODA hat sieben Stockwerke und wenn ich mich Recht erinnere, dann gab es mal eine Zeit, da hatten sich die Mitglieder einen Spaß daraus gemacht, den einzelnen Stockwerken Namen zu geben. So hieß das Kellergewölbe zum Beispiel „Hölle“, das Erdgeschoss „Basis“, der zweite Stock „Baum“, und so weiter. Der siebte und letzte Stock hieß demnach…“ „Wolke!“, beendete ich den Satz, da mir endlich der Groschen fiel. Endlich kam ich der Rätsels Lösung auf die Spur, aber bisschen weit hergeholt war das schon. „Dann muss es aber doch ein Mitglied aus der CODA sein…, aber ich dachte der Brief wäre von Ja…“ Ich hielt inne, denn Julius hatte ich im Gegensatz zu Lexi nie was von Jack erzählt. „Was? Was wolltest du sagen?“, fragte er mich, nachdem ich beschloss zu schweigen. „Ach egal. Danke dir jedenfalls, dass du mir geholfen hast.“, sagte ich glücklich. „Kein Ding. Ich hab dich übrigens noch aus einem ganz anderen Grund angerufen. Ich hoffe du denkst an unsere Abmachung: Keine Geschenke dieses Jahr! Wehe du schenkst mir was, dann kriegst du ein paar hinter die Löffel!“ Julius Stimme klang bedrohlich, aber wenig ernst zu nehmen. „Das größte Geschenk was du mir machen könntest, bekomme ich ja eh nicht.“, sagte ich geknickt, schmunzelte aber innerlich. Auf Julius Frage hin, was das für ein Geschenk gewesen wäre, antwortete ich: „Na dir an deinen wohlgeformten Knackarsch zu grabschen, wovor du immer Schiss hast.“
Was wäre ich nur ohne meinen guten Freund Julius? Vermutlich ein hoffnungsloser Fall. Dank seiner Hilfe konnte ich das Rätsel lösen und machte mich am nächsten Tag zugleich zur CODA auf. Das siebte Stockwerk glich derzeit einer Baustelle, aufgrund einer Renovierung und eigentlich war es verboten, sich dort aufzuhalten. Statt einer Tür erwartete mich eine große Plastikplane. Es war recht kühl, denn die Fenster wurden ausgehoben, um durch neue ersetzt zu werden. Das bedeutete es also, sich vom Wind berieseln zu lassen. Doch was nun? Ich sah mich auf der Baustelle ein wenig um, als ich etwas vor einem der Fenster baumeln sah. Von der Decke hing ein dünner Draht herunter und an dem Draht war eine selbstgebastelte Wolke aus Pappe befestigt. Auf der Wolke selber stand etwas geschrieben – ein neues Rätsel: „Such unter der Erde, denn dort liegt ein verborgener Schatz.“ Wie jetzt? Wird das zu einer Schnitzeljagd? Darauf hatte ich eigentlich nur wenig Lust, doch wenn der Verfasser dieser Rätsel wirklich Jack war, dann wollte ich ihm eben diesen Gefallen tun. Doch wie war das neue Rätsel gemeint? Such unter der Erde? Leichter gesagt als getan, wenn man bedachte, dass inzwischen überall Schnee lag. Zumal ich nicht einmal wüsste, wo ich suchen sollte. In solch einem Fall wären ein paar Hinweise ganz hilfreich gewesen.
Kapitel 9: All I Want For Christmas Is You" Die Tage vergingen, Weihnachten rückte immer näher und es wurde an der Zeit, dass ich endlich mal die Geschenke für meine Familie und meine besten Freunde besorgte. Ich hatte schon ein paar Ideen wem ich was zu Weihnachten schenkte. Lena begleitete mich ins hiesige Shopping-Center, wo eine Menge Leute ihre Weihnachtseinkäufe erledigten. Unsere Eltern erhielten von Lena und mir einen Gutschein für ein gemeinsames Wellness-Wochenende. Das ganze Jahr über waren sie so im Stress, dass ihnen das sicherlich gut tun würde. Die Zwillinge bekamen von uns jeweils was Separates. Sarah bekam von mir eine kleine Handtasche mit „Hello Kitty“-Muster drauf und meinem Bruder Sebastian schenkte ich einen kleinen Chemiebaukasten, mit dem er zum Spaß etwas experimentieren konnte. Lena bekam etwas ganz Besonderes von mir. Da im nächsten Jahr ihre Hochzeit bevor stand und sie zunehmend dabei war, ihre eigene Familie zu gründen – schließlich weiß man ja nie, wann das erste Baby kommt – wollte ich ihr ein Familienalbum basteln, damit sie uns nicht vergisst und schöne Erinnerungen an uns hat. Auch meine zwei besten Freunde Lexi und Julius bekamen Geschenke. Lexi bekam von mir ein Parfüm, von dem sie neulich so sehr schwärmte und Julius…, tja der bekommt genau das, was er verdient! Marcel wollte ich auch etwas schenken, doch hatte ich bei ihm nicht die leiseste Ahnung, was er mochte oder gebrauchen könnte. „Ist das nicht Oma?“, hörte ich Lena neben mir fragen, während wir mit vollbepackten Einkaufstüten durch das Shopping-Center liefen. „Ja, das ist Oma, ich bin mir ganz sicher! Wer ist denn da bei ihr?“ Lena hatte Recht. Wenige Meter von uns entfernt stand unsere Oma vor einem Spielwarengeschäft. Sie befand sich in Begleitung eines kleinen Mädchens, das weder ich noch Lena kannten. Wir gingen auf die Beiden zu und begrüßten sie natürlich erfreut. „Oh Kinderchen, wie ich mich freue euch zu sehen!“, rief unsere Oma glückselig und drückte mich anschließend natürlich ganz fest an ihre Brust. „Darf ich euch Bell vorstellen. Ich bin ihr vorhin über den Weg gelaufen. Die Arme hat sich verlaufen und findet ihre Eltern nicht mehr.“ Bell war ein kleines puppenhaftes Mädchen von etwa sieben Jahren. Sie hatte goldblondes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, und trug ein Kleid, das einem Dirndl sehr nahe kam. Zudem trug sie einen riesengroßen Lollipop in Herzform mit sich herum, an dem sie gelegentlich lutschte. Lena ging auf die Knie und begrüßte das Mädchen ganz herzlich. Lena würde in naher Zukunft bestimmt eine gute Mutter abgeben. Das Interessante jedoch war, dass die kleine Bell nur Augen für mich zu haben schien. Sie hatte leicht errötete Wangen und sah mich unentwegt mit ihren großen Kulleraugen an. Ich fühlte mich ein wenig beobachtet und hatte das Gefühl, ein Klingeln in meinen Ohren zu hören. „Hast du schon versucht, ihre Eltern ausrufen zu lassen?“, fragte Lena unsere Oma. „Wir wollten gerade zur Informationszentrale, als Bell vor dem Spielwarengeschäft stehen blieb.“, erklärte Oma uns. „Offenbar gefiel ihr die Miniatureisenbahn im Schaufenster so sehr.“ Lena verstand und lächelte der kleinen Bell zu. „Keine Sorge, wir werden deine Eltern schon finden.“ „Ich mach mir keine Sorgen.“, sagte die kleine Bell tapfer und mit einem Lächeln im Gesicht, dass uns alle verwunderte. „Mein großer Bruder hat immer gesagt, wenn mal etwas verloren geht, dann such nicht, sondern lass dich finden! Einmal hat er einen Schlüssel verloren und egal wie lange er gesucht hat, er konnte ihn einfach nicht wiederfinden. Ein paar Tage später tauchte er dann von ganz alleine auf. Seitdem versteckt er den Schlüssel aber immer unter einem Blumentopf.“ „Dein Bruder hat vollkommen Recht!“, meinte unsere Oma, während ich ihr nur mit halbem Ohr zuhörte. Die kleine Bell hat da etwas gesagt, was mich zum Nachdenken anregte. „Such unter der Erde…“, so lautete es in dem Rätsel. War damit womöglich Blumenerde gemeint? Ich grübelte noch ein wenig weiter nach und dann ging mir endlich ein Licht auf! „Ich muss mal ganz dringend fort.“, sagte ich plötzlich und stieß dabei natürlich auf völliges Unverständnis meiner Schwester. „Fort? Jetzt? Und was ist mit den restlichen Geschenken?“, fragte Lena mich verwirrt. „Das Meiste haben wir doch eh beisammen. Mir fehlen nur noch die Geschenke für Lexi und Julius und die kann ich später immer noch besorgen.“, erklärte ich meiner Schwester und begann schon zum Ausgang zu rennen. Dabei war mir so, als hörte ich in der Ferne ein Glöckchen bimmeln. Vermutlich kam das aus einem der vielen Geschäfte, die weihnachtlich dekoriert worden waren.
Ich begab mich auf schnellstem Wege zur Uni, denn dort, so vermutete ich, lag der Schatz verborgen, nach dem ich unter der Erde suchen sollte. Doch auf dem Weg zur Uni fing mein Handy zu vibrieren an. Ich hielt kurz an, denn es war eine WhatsApp-Message von Lexi. Sie schrieb: „Müssen uns treffen. Jetzt.“ Die Nachricht war komisch, denn sie klang so ernst. Kein Smiley und auch keine Begründung, warum ich mich mit ihr treffen sollte. Ich schrieb also zurück: „Eigentlich hab ich gerade keine Zeit, aber wenn es wichtig ist, dann komm ich zu dir.“ Die U-Bahn zur Universität war ohnehin dieselbe Bahn, die auch zu Lexi nach Hause fuhr. Ich wartete eine Minute ab, dann erhielt ich von Lexi die Antwort: „Bitte komm! Es ist von größter Wichtigkeit!“ Das war der letzte Beweis dafür, dass etwas vorgefallen sein muss. Ich ahnte Schlimmes, doch wollte ich den Teufel nicht an die Wand malen und abwarten. Das Rätsel musste demnach noch warten. Als ich bei Lexi Zuhause ankam, öffnete Yasin mir freundlicherweise die Tür. Er begrüßte mich mit einem Lächeln, doch schien ihm nicht wirklich danach zumute zu sein. Er begleitete mich in Lexis Zimmer hinauf, das außerordentlich aufgeräumt und reinlich erschien. Lexi stand vor ihrem Fenster und blickte in den Garten hinunter, indem ich mir mit ihr, Yasin und Marcel vor ein paar Tagen noch eine heiße Schneeballschlacht lieferte. Marcel und ich bildeten zusammen ein Team gegen Yasin und Lexi. Das verliebte Pärchen schlug uns leider haushoch. Ich war eine echte Niete im Werfen von Schneebällen, aber Marcel schlug sich recht gut und traf seine Ziele fast immer. Ich trat auf Lexi zu und bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Hey, was ist los?“ „Ich lassen euch alleine, dann können ihr in Ruhe reden.“, sagte Yasin mit ernster Miene und seinem nicht perfekten Deutsch. Er verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür. „Lexi?“ Ich trat näher an meine beste Freundin heran. Lexi drehte sich schließlich zu mir um und ich konnte ihre verquollenen Augen erkennen. Ganz klar ein Zeichen dafür, dass sie bis vor kurzem geweint hatte. Damit war für mich die Sachlage klar: „Yasins Bescheid ist gekommen? Wird er abgeschoben?“ Die Frage war überflüssig, doch musste ich sie natürlich einfach stellen. Lexi schwieg auch weiterhin, ein Nicken ihrerseits war sowieso Antwort genug. „Oh nein.“, sagte ich mitfühlend und nahm meine beste Freundin daraufhin in den Arm. „Er weiß es schon seit ein paar Tagen, wollte es mir aber erst nach Weihnachten sagen, um mir das Fest nicht zu verderben.“, schluchzte Lexi in meine Arme. „Doch er ist ein schlechter Lügner und schließlich bin ich selber drauf gekommen. Das ist so furchtbar! Wieso tun die uns das an?“ „Auf manche Fragen gibt es keine Antworten.“, meinte ich dazu. Das Leben war wahrlich nicht immer gerecht, das wusste ich nur zu gut. „Und wie geht es jetzt mit euch weiter?“, fragte ich schließlich. Lexi entriss sich meiner Umarmung und sah mich nun das erste Mal direkt in die Augen. Ich bekam ein mulmiges Gefühl. „Yasin muss in sein Heimatland zurück. Ich liebe ihn, ich liebe ihn so sehr! Ich halte es keinen Tag ohne ihn aus, das musst du verstehen.“ Und wie ich sie verstand. Mir ging es bei Jack doch fast genauso, doch musste ich viele Tage leider ohne ihn verbringen. „Deshalb habe ich beschlossen, ihn zu begleiten.“ Diese Entwicklung der Ereignisse traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Dabei hatte ich es eigentlich kommen sehen, doch irgendwie hab ich immer auf ein Wunder gehofft. „Ich weiß, dass das plötzlich kommt und ich bin darüber auch nicht sonderlich glücklich, aber noch unglücklicher wäre ich, wenn Yasin nicht mehr bei mir wäre. Ich gehe mit ihm. Meine Eltern stehen voll und ganz hinter mir und ich hoffe das tust du auch!“ „Was bleibt mir denn anderes übrig.“, erwiderte ich betrübt und ich spürte, wie ich nun ebenfalls den Tränen nahe war. Erst Jack, dann Julius, jetzt Lexi… irgendwie verließen sie mich alle. „Die Abschiebung erfolgt noch in diesem Jahr.“, sagte Lexi, was mich noch zusätzlich schockierte. „So schnell?“ Ich reagierte bestürzt und fühlte mich hilflos. Genauso müsste sich Lexi auch gerade fühlen, nur dass es für sie und natürlich auch ihre Eltern noch tausendmal schlimmer war. „Keine Sorge. Wir sehen uns davor auf jeden Fall nochmal!“, versuchte Lexi mich zu beruhigen, doch war dies nur ein schwacher Trost. Wieso war das Leben manchmal nur so unfair?
Nach meinem Besuch bei Lexi, legte ich erst Recht keinen besonderen Wert mehr auf das Rätsel, weshalb ich mich auf dem Nachhauseweg begab. In der U-Bahn grübelte ich natürlich über Lexi und Yasin nach, aber auch Jack schwirrte mir noch immer im Kopf herum. Es war ein langer und leider nicht sehr erfreulicher Tag. Da fiel mir auch wieder ein, dass ich Lena bei unserer Oma und dem kleinen Mädchen zurückgelassen hatte. Ob sie die Eltern der kleinen Bell gefunden hatten? Zudem wollte ich mich bei meiner Schwester für mein Verhalten entschuldigen, doch als ich sie auf dem Handy anrief, ging nur die Mailbox ran. Die letzten Meter musste ich zu Fuß gehen und als ich in die Straße einbog, in der wir wohnten, konnte ich bereits meine kleinen Geschwister im Garten rumtollen sehen. Eingepackt in Mantel, Schal, Mütze, Handschuhe und Winterstiefel, bauten sie aus dem vielen Schnee ihren inzwischen dritten Schneemann. „Na ihr? Es wird langsam dunkel und ihr spielt immer noch draußen?“ „Ja, ich glaube Mami und Papi haben uns vergessen.“, grinste Sebastian frech. „Vielleicht hat das mit Lena zu tun, die vorhin reingestürmt kam.“, meinte Sarah nachdenklich. „Sie sah sehr mitgenommen aus, meinte aber wir sollen uns keine Sorgen machen.“ Hatte ich meine Schwester etwa gekränkt, dass ich sie einfach so im Shopping-Center mit all den Weihnachtsgeschenken zurückließ? Nein, das konnte unmöglich der Grund für ihr Auftauchen sein, denn so war Lena nicht. Es musste etwas vorgefallen sein, nachdem ich fort war. Kein gutes Zeichen. Noch mehr schlechte Nachrichten vertrug ich nämlich nicht. Ich ging sofort ins Haus und bereits in der Eingangshalle konnte ich Lena wütend und traurig zugleich reden hören: „Die können doch nicht einfach unseren Termin absagen und auf Herbst verschieben! All die Vorkehrungen die ich bereits getroffen habe… alles für die Katz! Sie zerstören meine Traumhochzeit!“ „Och mein Schatz, wir finden sicherlich eine Lösung.“, hörte ich meine Mutter zu ihr sagen. „Was ist denn hier los?“, fragte ich, als ich das Wohnzimmer betrat. „Die Hochzeit deiner Schwester wurde gecancelt.“, erklärte mir mein Vater kurz und bündig und ich blickte zu meiner Schwester, die Tränen in den Augen hatte. Dieser Tag entwickelte sich zu einer einzigen Katastrophe und allmählich befürchtete ich, dass dies kein erfreuliches Weihnachtsfest mehr werden würde.
Kapitel 10: "Wonderful Dream" Der geplatzte Hochzeitstermin war auch in den darauffolgenden Tagen das Gesprächsthema Nummer Eins. Lena tat mir richtig Leid, wo sie doch schon alles von langer Hand geplant hatte. Nun wurde der Termin noch einmal um ein halbes Jahr nach hinten verschoben, sehr zum Missfallen meiner Schwester natürlich. „Ich will nicht im Herbst, sondern im Frühling heiraten, wenn die Natur aufblüht und die Sonne unser Gesicht streichelt.“, sagte sie erzürnt. Nun konnte man sich darüber streiten, dass dies Nichtigkeiten waren, doch für meine Schwester war es das Wichtigste auf Erden. Doch die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und so wurde Lena und Christoph ein unerwartetes Angebot unterbreitet. Ich hatte natürlich auch Marcel von dem Dilemma erzählt, der es wiederrum seinem Vater erzählte und der war ja bekanntlich ein Pastor. Eines Abends waren Lexi und Marcel bei mir zum Essen eingeladen. Auch Lena und Christoph waren zugeben und so kam eins zum anderen. „Mein Dad hätte euch da ein Angebot zu machen.“, sagte Marcel am Essenstisch, während alle genüsslich ihre Kartoffelknödel mit Blaukraut und Kalbsleber verzehrten. „Nächsten Sonntag, am 4.Advent also, hätte eine Trauung in der Pfarrgemeinde vollzogen werden sollen, doch das Paar hat erst vorgestern kurzfristig abgesagt, aufgrund kreativer Differenzen. Demnach ist der Termin frei geworden und mein Dad hätte Zeit. Wenn ihr also wollt und spontan seid…“ „Das ist ein freundliches Angebot von deinem Dad.“, meinte Christoph. „Was sagst du dazu Lena?“ „Also… nein… das geht doch etwas zu schnell.“, äußerte sich meine Schwester unsicher dazu. „Es ist arschkalt draußen, da frier ich mir ja den Hintern ab.“ „Sieh es doch mal von der anderen Seite Lena.“, sagte Lexi, die sich in das Thema miteinbrachte und so schließlich von der bevorstehenden Abschiebung ihres Freundes abgelenkt wurde. „Du wolltest eine weiße Hochzeit und was wäre dazu besser geeignet als glitzernder weißer Schnee? Es entspricht vielleicht nicht deinen Wunschvorstellungen, aber Schnee kann auch romantisch sein.“ „Außerdem wäre das ja nur eine standesamtliche Hochzeit.“, meinte Marcel. „Du kannst jederzeit noch eine große Feier, mit Kirche und allem Schnickschnack veranstalten und wenn es im Frühling sein muss, dann eben im übernächsten Jahr. Jetzt habt ihr die einmalige Gelegenheit euch im engsten Kreise trauen zu lassen. Ihr beide seid bereit und ihr habt die Ringe, das ist alles was zählt!“ „Das klingt ja alles ganz nett, aber das ist sooo… kurzfristig.“, sagte Lena, die sich noch immer nicht ganz sicher zu sein schien. „So etwas bedarf doch einer ausführlichen Planung und…“ „Lena-Schatz.“ Christoph legte seine Hand auf die seiner Verlobten und lächelte sie zärtlich an, während seine Augen zu strahlen begannen. „Ich liebe dich und ich will dich zu meiner Frau nehmen. Dazu benötigt es keiner Planung. Bitte sag also ja.“ Es folgte eine kurze Schweigeminute, in der keiner was sagte und alle gespannt darauf warteten, wie sich Lena letztendlich entschied. Ich kannte meine Schwester nur zu gut und wusste demnach, was gerade in ihr vorging. Sie hasste Spontanaktionen, aber für die Menschen die ihr was bedeuteten, würde sie auch ihre Prinzipien ändern. Deshalb stand ihre Entscheidung für mich von vornherein klar und ich sollte Recht behalten: „Dann…“, sagte sie langsam, „…lass uns nächste Woche heiraten!“
Bei all der Aufregung um die erst gecancelte und nun doch wieder bevorstehende Hochzeit hatte ich sogar für einen kurzen Moment Jack und das Rätsel vergessen können. Doch als ich am Montag wieder in die Uni ging, wollte ich mich dem Rätsel wieder widmen und dort weiter machen, bevor Lexis traurige Botschaft mich ereilte. Ich stolzierte in die Bibliothek, in der „Leise sein!“ oberstes Gebot war. Ich lief ein paar Bücherregale entlang bis hin zu einer Fensterreihe. Endlich hatte ich es geschafft! Auf einem Fenstersims stand unsere selbstgezüchtete Blume, die wir erst dieses Frühjahr dort abstellten, als Zeichen unserer Freundschaft. Ich hob den Blumentopf an und lugte vorsichtig in die Vase hinein. Ein weiterer Zettel befand sich dort. Ich lag mit meiner Vermutung also richtig. Ich entfaltete den Zettel und las: „Alle guten Dinge sind Drei, doch beeile dich, denn die Sonne ist dein Feind.“ Kann es nicht mal ein einfaches Rätsel sein? Darin sind ja noch weniger Hinweise enthalten, als in dem zuvor. Soll ich immer auf mein Glück bauen? „Schon wieder ein Rätsel?“, hörte ich eine Stimme hinter mir fragen und als ich mein Kopf zur Seite drehte, konnte ich Marcels Kopf über meiner Schulter spüren. „Da scheint es jemand ernst mit dir zu meinen. Und? Hast du das Rätsel schon geknackt?“ „Nein. Wobei… wenn ich so darüber nachdenke, dann bedeutet „…doch beeile dich, denn die Sonne ist dein Feind“ wohl, dass ich als Nächstes im Schnee suchen muss. Schnee schmilzt in der Sonne.“, erklärte ich Marcel meine spontane Eingebung. „Hm…“ Auch Marcel schien zu überlegen und schließlich sagte er: „Alle guten Dinge sind Drei“. Das erinnert mich an die drei Schneekönige, die in eurem Garten stehen.“ „Heilige Maria Mutter Gottes. Du hast Recht! Das wird es sein. Ich danke dir!“ Zum Dank drückte ich Marcel einen Kuss auf die Wange, der daraufhin wie versteinert war, während ich schon wieder aus der Bibliothek rannte – es folgte eine Ermahnung der Bibliothekarin „Nicht rennen!“.
Im Moment war mir mein Studium völlig egal, denn an vorderster Stelle stand für mich aktuell das Rätsel. Zumal die Vorlesungen der verschiedenen Professoren eh größtenteils langwierig und ohne jeglichen Belang waren. Den Stoff kann ich auch noch nach Weihnachten lernen. Mein Gefühl, dass Jack der Verfasser der Rätsel war, wurde zunehmend stärker. Wer sonst kannte mich so gut, als der Geist von Weihnachten? Womöglich hat er mich das ganze Jahr über beobachtet und nur darauf gewartet mich wieder zu sehen. Womöglich hat er dieselben Gefühle für mich entwickelt, wie ich für ihn. Es wäre einfach zu schön. Ich sehne mich nach ihm, obwohl er eine eisige Ausstrahlung auf mich verübte, war er im Grunde genommen ein warmfühlender Mensch… oder Wesen. Nach einer guten halben Stunde war ich wieder bei mir daheim. Das Auto meiner Mutter stand in der Hofeinfahrt. Demnach war sie schon Zuhause, nachdem sie die Zwillinge aus der Schule abgeholt hat. Doch ich ging ohne Umwege in den Garten. Die Sonne schien heute stärker denn je vom Himmel herunter und es war klar und deutlich zu erkennen, dass der Schnee bereits wieder zu schmelzen begann. Doch die drei Schneemänner standen zum Glück noch aufrecht und ein jeder von ihnen trug eine selbstgebastelte Krone auf dem Kopf. Doch wo befand sich nun die nächste Botschaft? Ich suchte die Schneemänner gewissenhaft ab. Oben, unten, rechts und links, doch konnte ich nichts finden, was auf ein nächstes Rätsel hinweisen könnte. Hatte ich mich vielleicht geirrt? Nein, so schnell gab ich nicht auf. Ich überlegte noch einmal etwas genauer, während ich den mittleren Schneemann, den ich mit meinen Geschwistern als Erstes errichtete, noch einmal genauer ins Visier nahm. Im Schnee war nichts zu sehen, die Karottennase wies auch keinerlei Spuren auf und auch die schwarzen Steine, die als Augen und Mund herhalten mussten, waren einwandfrei. „Aller guten Dinge sind drei…“ – drei Schneemänner, mit jeweils einer Krone – Die drei heiligen Könige?! Ich streckte meinen Arm aus und nahm die Krone vom mittleren Schneemann herunter. Äußerlich betrachtet sah sie so aus, wie an dem Tag, als ich sie bastelte, doch innerhalb der Krone stand nun etwas geschrieben. Wie erwartet ein neues Rätsel: „Glocken läuten strahlend hell, das junge Glück dir weiter hilft.“ So allmählich könnte das Ratespiel ein Ende nehmen dachte ich mir, doch vermutlich ging das noch bis Heiligabend so weiter. Und wer auch immer nun der Verfasser dieser Rätsel war, er möchte mir auf eine ganz besondere Art und Weise eine Freude bereiten.
Nachdem ich schon mal Zuhause war, konnte ich auch genauso gut eine Mahlzeit zu mir nehmen. Meine Mutter wunderte sich natürlich, warum ich nicht in der Uni war und ich erklärte ihr die Sachlage, während ich ihre warme Nudelsuppe verköstigte. Als ich fertig erklärt hatte, sagte meine Mutter: „Derjenige, der dir diese Rätsel stellt, muss dich gut kennen, sonst wüsste er all die guten Verstecke nicht. Zuerst die CODA, dann der Blumentopf von dir und deinen Freunden, jetzt in unserem Garten… und wohin das nächste Rätsel dich führt, dürfte ja wohl auch klar sein.“ „Ach ja?“ Ich starrte meine Mutter ratlos an. „Ich steh da irgendwie voll auf dem Schlauch.“ „Man merkt´s, aber da musst du schon selber draufkommen, sonst nehme ich dir ja den ganzen Spaß an dem Ratespiel.“, meinte meine Mutter schmunzelnd. „Muuuum, bitteeee!“, bettelte ich, doch bekam ich nichts mehr aus ihr heraus. Anschließend wollte ich mich in mein Zimmer zurückziehen, doch wurde ich zuerst von Niko daran gehindert, der mir ungeachtet den Weg kreuzte und ins Zimmer von Sebastian tapste und danach hörte ich die aufgeregten Stimmen meiner kleinen Geschwister, die sich wieder einmal in den Haaren lagen. „Du bist ja nur neidisch, dass du nichts bekommen hast!“, hörte ich Sarah laut sagen. „Bin ich gar nicht. Was will ich denn auch mit so einer ollen Schokolade.“, erwiderte Sebastian gleichgültig, als ich das Zimmer von Sarah betrat. Die Beiden saßen sich auf dem Teppichboden gegenüber und schauten sich mit böse funkelnden Augen gegeneinander an. Sarah hielt dabei eine Tafel edelster Schokolade fest umklammert an ihrer Brust. Die Schokolade war zudem mit einer Schleife versehen. „Was ist denn nun schon wieder los? Warum streitet ihr?“, fragte ich die Beiden, während ich mich dezent zwischen sie drängelte, um den Streit schnellstmöglich zu beenden. Ich wandte meinen Kopf zwischen den Beiden hin und her. „Sebastian ist neidisch, dass ich Schokolade geschenkt bekommen habe und er nicht.“, erklärte Sarah mir sehr mädchenhaft, streckte ihrem Bruder hinterher aber die Zunge entgegen. „Bin ich gar nicht.“, zischte Sebastian wütend. „Ich hab nur gefragt, was sich dieser Dummdödel darauf einbildet dir etwas zu schenken, das ist alles.“ „Wer ist denn dieser „Dummdödel“?“, fragte ich, um an ein paar mehr Details zu gelangen. „Ein Klassenkamerad von uns. Er und Sebastian sind gute Freunde.“, antwortete Sarah mir. „Und er hat dir die Schokolade geschenkt, weil…?“, fragte ich weiter. „Weil er mich mag und mir zu Weihnachten etwas schenken wollte, hat er gemeint.“, erklärte Sarah mir, während sie die Tafel immer noch fest umschlungen an ihre Brust hielt, als ob sie die Tafel vor Sebastian oder mir beschützen müsste. „Das ist aber lieb von ihm.“, meinte ich lediglich dazu, denn mehr wollte mir einfach nicht dazu einfallen. Dies sollte sich jedoch als Fehler erweisen, denn nun war Sebastian vollends eingeschnappt. Er stand auf und stapfte frustriert aus dem Zimmer. „Ich regle das, keine Sorge.“, sagte ich zu Sarah und folgte Sebastian in sein Zimmer. Dort fand ich ihn in seinem Bett vor. Niko war bei ihm und Sebastian streichelte ihm sanft übers Fell. „Du weißt was Mum gesagt hat, oder? Kein Hund im Bett!“ „Mir doch egal.“, reagierte Sebastian pampig. „Was ist los mit dir, hm? Du bist doch sonst nicht so rebellisch.“, meinte ich, was auch stimmte. „Den Part des Rebellen hab sonst immer ich eingenommen. Willst du mich etwa ablösen?“ „Ich will überhaupt nichts und schon gar nicht will ich so sein wie du!“, blaffte Sebastian nun mich an, was mich enorm erstaunte. Doch so langsam begann ich zu begreifen. Sebastians bester Freund machte unserer Schwester ein Geschenk und er reagierte eifersüchtig. Dann noch sein Verhalten mir gegenüber. Sebastian war erst zehn Jahre alt und eigentlich wäre meine Vermutung demnach schwachsinnig, aber wäre es möglich, dass er sich in seinen besten Freund verguckt hat?
Kapitel 11: "Jingle Bells" Es war ein herrlicher Wintertag. In der Nacht fiel Neuschnee vom Himmel und bedeckte das Land noch einmal mit neuem weißem Pulverschnee. Doch tagsüber stand bereits wieder die helle Sonne am Horizont und brachte die Schneeflocken zum Glitzern, als wären sie Juwelen. Meine Familie, meine Freunde und ich standen voller Vorfreude und hohen Erwartungen vor dem Standesamt, als endlich ein schwarzer Mustang vorfuhr. Der Trauzeuge von Christoph fuhr das Auto und als Erster stieg auch Christoph aus. Er lächelte uns allen entgegen, ging um das Auto herum und öffnete schließlich meiner großen Schwester die Tür. Zuerst sah ich ihren rechten Fuß den Asphalt betreten und bereits da konnte ich erahnen, dass sie ein wunderschönes Kleid tragen muss. Wenige Sekunden später blickte ich in das Gesicht meiner Schwester, die nie glücklicher zu sein schien. Sie trug ein weißes Hochzeitskleid… gut die Beschreibung ist jetzt nicht sehr originell, aber Lexi kannte sich da besser aus: „Das ist ein ganz schlichtes Brautkleid mit transparenten Ärmeln und transparentem Schallkragen. Schlicht, aber schön!“, erklärte sie mir, ihrem Freund Yasin und auch Marcel, der allein schon deswegen eingeladen wurde, weil sein Vater nun die Trauung vollzog. „Sie sehen wie ein Engel aus.“, gab Yasin schwärmerisch von sich und zog sich damit den Groll von Lexi auf sich, die selbstverständlich eifersüchtig wurde. „Ich brauchen keinen Engel, denn ich habe ja leuchtendes Juwel wie dich an meiner Seite.“, sagte Yasin schnell, womit er Lexi wieder zu besänftigen versuchte und sich damit aus seiner Bredouille befreite. „Oh, dass ich das noch erleben darf. Eine Hochzeit ganz in Weiß!“, hörte ich meine Oma begeistert rufen, die zusammen mit meiner Mum am Straßenrand stand, während mein Dad Fotos von dem jungen Glück schoss. „Sebastian und Sarah, seht nur wie schön eure große Schwester ausschaut!“ Die Zwillinge standen ganz in der Nähe von meiner Oma und warteten gespannt ab, was als Nächstes geschah. Es war die erste Hochzeit, auf der sie mit durften. Sarah trug ein typisches Kleid für kleine Mädchen und zwar ganz in rosa, während Sebastian einen himmelblauen Anzug trug. Er sah beinahe wie ein kleiner Prinz aus, zumindest fand das Lexi: „Du meine Güte! Lukas, dein kleiner Bruder ist ja zum Knuddeln, so süß sieht er aus. Wäre er zehn Jahre älter, wäre er der perfekte Prinz für mich!“ Mit diesen Worten wollte sie sich natürlich an Yasin für dessen Worte revanchieren. „Mein Vater wartet drinnen auf uns.“, sagte Marcel, der einen braunen Anzug mit Krawatte trug. Er sah sehr elegant gekleidet aus, was mit seinem natürlichen Aussehen etwas im Kontrast stand, aber ich musste zugeben, dass er in dem Anzug eine gewisse anziehende Ausstrahlung auf mich ausübte. Ich hingegen hatte mich für einen dunkelblauen Anzug mit blau-weiß-gestreifter Krawatte entschieden und wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich mich eigentlich auch sehr attraktiv. „Gut, dann lasst uns reingehen. Das ist der große Moment auf den alle gewartet haben.“, sagte mein Vater, der mit dem fotografieren aufhörte und das Gesicht eines stolzen Vaters an den Tag legte. „Ich bin ja sooo aufgeregt.“, hörte ich Lexi mit halber Stimme quietschen. „Sicher, dass du mit der zusammen bleiben willst?“, fragte ich Yasin schmunzelnd. Yasin reagierte zunächst nicht drauf, aber dann sagte er doch noch: „Ich lieben Lexi, also ja, ich will!“ Wir spazierten alle in das Standesamt, in dem Pastor Eppstein bereits auf uns wartete. Es war eine sehr schöne und traditionelle Trauung. Lena und Christoph wirkten sehr glücklich und ihr Kuss, der die Ehe besiegelte, war von solch einer Romantik, dass der Raum nur so von Liebe erfüllt war.
Nach der Trauung im Standesamt folgte eine Feier im engsten Kreise und zwar im Wirtshaus „Zur unteren Mühle“. Dieses Wirtshaus war an einem Fluss gelegen. Anbei gab es eine große Wiese mit Spielplatz und am Flussufer stand ein altes Mühlrad, wie es die Bauern im Mittelalter nutzten. Nun war natürlich alles mit Schnee bedeckt, weshalb die Kinder draußen nicht spielen konnten, doch dafür wurde ausreichend getanzt. Das Brautpaar vollzog den Hochzeitswalzer und kurz darauf betraten auch die jeweiligen Brauteltern und die Trauzeugen die Tanzfläche. Marcel benahm sich wie ein Gentleman und bat meine kleine Schwester Sarah um einen Tanz, die sofort rot anlief. Auch Yasin fand sich auf der Tanzfläche wieder, jedoch gegen seinen Willen. Er konnte nämlich überhaupt nicht tanzen, doch Lexi wollte es ihm beibringen. Was er alles für seine Freundin tat, war wirklich lieb, aber schließlich brachte sie auch ein großes Opfer für ihn, da sie ihre Familie, ihre Freunde, ja ihr ganzes Leben in Deutschland für ihn hinter sich ließ. Ihre Beziehung beruhte also auf Gleichberechtigung. „Jetzt lunger hier doch nicht so herum, mein Junge!“, befahl meine Oma, die auf mich zugeschritten kam. Ich betete inständig, dass sie mich nicht zum Tanzen aufforderte. „Jetzt mach dir doch nicht gleich ins Hemd! Ich möchte doch gar nicht mit dir tanzen. Als ob ich nicht wüsste, dass ein alter Besen wie ich es bin, mit einem Jungspund wie deiner einer nicht mithalten könnte.“ „Du übertreibst Oma. Für dein Alter bist du doch noch sehr gut auf den Beinen.“, merkte ich an. „Ja, aber das Alter geht auch an mir nicht vorüber.“, sagte Oma, die sehr in sich gekehrt wirkte. „Ich werde alt Lukas. Meine Tage sind gezählt und deine Generation ist nun an der Reihe, sich um die darauffolgende Generation zu kümmern. Sieh doch mal darüber.“, meine Oma deutete mit ihren alten knochigen Fingern in eine Ecke, in der völlig unbeachtet mein klein Bruder Sebastian saß. „Ich sehe und höre nur noch halb so gut, aber mein sechster Sinn sagt mir, dass ihn etwas bedrückt. Krieg also endlich deinen fetten Knackarsch von der Bank hoch und kümmere dich um ihn, so wie es sich für einen großen Bruder gehört.“ Oma hatte Recht, auch wenn ich angesichts ihrer Wortwahl sprachlos war. Ich umarmte meine Oma einmal liebevoll und ging anschließend zu meinem Bruder. Als er mich kommen sah, zogen schon die ersten Gewitterwolken auf. Egal was ich zu ihm sagen würde, er würde auf Krawall gebürstet sein, also versuchte ich es zugleich mit einer anderen Taktik. Ich nahm mir einen Teller und ein Stück Torte und erst dann setzte ich mich zu ihm. Ich ließ ihn völlig unbeachtet und sagte: „Boah, die Torte schmeckt so geil. Das ist jetzt schon mein drittes Stück! Vor allem die Marzipanrosen, die als Deko oben drauf liegen, sind der Hammer!“ Ich wusste natürlich, dass Sebastian Marzipan über alles liebte. So wollte ich ihn aus der Reserve locken und das mit Erfolg! Sebastian griff nach einer herumliegenden Gabel und klaute mir die Rose von der Torte. „Heeey, du kleiner Frechdachs!“ Mein Bruder grinste mich breit an und ich lächelte zurück. „Wenn du etwas willst, dann nimmst du es dir. Das ist keine schlechte Eigenschaft. Es ist immer gut zu wissen, was man einmal möchte. Das ist vor allem für die Zukunft entscheidend – Für den Beruf, den Lebensstil und auch für die große Liebe! Doch was rede ich da, du bist erst zehn Jahre alt, also noch viel zu jung, dass du dir über solche Dinge Gedanken machen solltest. Lass einfach alles auf dich zukommen wie es ist und dann ergibt sich alles ganz von allein. Du musst dich zu nichts zwingen, was du nicht möchtest. Du solltest dir selbst am Wichtigsten sein und dir stets treu bleiben, dann kann nichts schief gehen.“ Ich wählte meine Worte mit Bedacht und fand sie eigentlich ganz gut getroffen. Sebastian war ein kluger Kopf und ich hoffte, dass er meine Botschaft verstand. Ich vermutete einfach stark, dass er momentan Angst vor der Zukunft hatte, da um ihn herum so viel geschah – Lenas Hochzeit, Sarahs Geschenk von seinem besten Freund und dann auch noch meine Neigung zu Männern. Das hinterlässt auch bei kleinen Kindern Spuren. Mein Bruder sollte aber wissen, dass ich immer für ihn da sein werde. Und tatsächlich schien ich mit meiner Taktik Erfolg zu haben. Sebastian schenkte mir ein zufriedenes Lächeln und klammerte sich dabei liebevoll an meinen rechten Arm. Manchmal konnte mein kleiner Bruder wirklich süß sein… „Tanzt du mit mir?“, fragte er mich urplötzlich... und nervig war er auch.
Es war der schönste Tag im Leben meiner Schwester und ich wollte ihn auch zu dem meinigen machen. Ich hatte das Rätsel „Glocken läuten strahlend hell, das junge Glück dir weiter hilft“ letzten Endes doch noch gelöst, nachdem mich meine Mutter auf die richtige Fährte brachte. Des Rätsels Lösung war natürlich, wenn die Hochzeitsglocken läuten, mir das Brautpaar weiterhilft. Es war bereits dunkel draußen, als ich zu Christoph und Lena ging und sie darauf ansprach. „Dann hast du das Rätsel also doch noch gelöst. Das wird IHN aber sicherlich freuen zu hören.“, sagte meine Schwester, die übers ganze Gesicht strahlte und mir ein blaues Kuvert überreichte. „IHN? Du weißt also, wer hinter all dem hier steckt?“, fragte ich. Natürlich wusste sie es, denn wer auch immer, muss ihr ja dieses Kuvert persönlich überreicht haben, damit sie es nicht selber öffnet. Doch sie nach demjenigen zu befragen wäre wohl zwecklos, da sie es mir ohnehin nicht preisgeben würde. Zudem wollte ich nun selber herausfinden, wer hinter dieser Schnitzeljagd steckte. „Du scheinst dieser Person sehr viel zu bedeuten.“, sagte Lena zart lächelnd zu mir, als ich gerade dabei war, das Kuvert zu öffnen und den Inhalt zu lesen. „Ja.“, antwortete ich ihr lediglich und musste natürlich an Jack denken. Ich las das Rätsel, dass nun auch das Letzte zu sein schien: „Dreh das Rad des Schicksals, dann ist das Wunder vollbracht!“ Das Rad des Schicksals? Dieses Mal musste ich erst gar nicht lange nachdenken, denn genau an diesem Ort befand sich ein Rad – das Mühlrad am Fluss! „Danke dir Schwesterchen!“, sagte ich noch zu Lena, ehe ich im Eiltempo aus dem Wirtshaus marschierte, bis hin zu dem Mühlrad am Fluss. Durch die Finsternis konnte ich nur wenig erkennen, aber zumindest der Schnee bot mir eine etwas freie Sicht. Ich stand vor dem Mühlrad und legte meine Hand auf eines der mit Moos bedeckten Achsen. Es fühlte sich rau und kalt an. Doch sollte ich wirklich an dem Rad drehen? Das erschien mir doch etwas übertrieben, aber vielleicht war das auch wieder nicht wortwörtlich zu nehmen. Es lag eine gefrorene Stille in der Luft. In der Ferne glaubte ich ein Glöckchen zu hören, das jäh von einer Stimme unterbrochen wurde: „Lukas?“ Ich drehte mich schreckartig um und mir gegenüber stand Marcel. Ich hatte ihn gar nicht durch den Schnee auf mich zu stapfen gehört. „Was tust du hier?“ „Ich…“, ich war mir unschlüssig darüber, was ich ihm antworten sollte. „Ich dachte ich dreh mal am Rad des Schicksals, damit mir das Wunder von Weinachten zu Teil wird und ich Jack endlich wieder sehe.“ „Jack?“, Marcel starrte mich zunächst verwirrt an, doch dann erinnerte er sich doch noch an den Namen. „Ach du meinst den Kerl, der dir letztes Jahr zu Weihnachten das Herz gebrochen hat.“ „Er hat mir nicht das Herz gebrochen.“, reagierte ich pampig. „Jack ist ein Engel!“ „Ach du meine Güte. Wann begreifst du endlich, dass es diesen Jack nie wirklich gab. Das war alles nur eine Einbildung von dir!“ Marcels Worte trafen mich zutiefst. „Ich hab mir Jack nicht eingebildet, er existiert wirklich!“, schrie ich Marcel nun lauthals an. „Ach und wo steckt er dann? Wenn es ihn wirklich gibt, so wie du sagst, wieso ist er dann nicht hier… bei dir? Wieso lässt dich der Kerl all die Zeit alleine? Er muss doch wissen, wie sehr du dich nach ihm sehnst. Wie kannst du nur jemanden lieben, der dich einfach sitzen gelassen hat?!“ Genug. Das war zu viel. Marcel meinte es vielleicht nur gut mit mir, aber er löste einen großen Schmerz bei mir aus. Ich rannte fort und Marcel schrie mir hinterher: „Jetzt lauf doch bitte nicht weg, Lukas!“ Ich rannte über die Wiese, bis hin zum Parkplatz des Wirtshauses. Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen. Ich warf einen Blick in den Nachthimmel hoch. Jack wo bist du? In der Ferne hörte ich erneut ein Glöckchen läuten. Ich sah mich um und glaubte eine Gestalt im Wald gegenüber des Parkplatzes zu sehen. Diese Gestalt trug meines Erachtens einen blauen Pulli und weißes Haar. Ich rannte los. „Jack?!“ Ich rannte auf die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Es war eine eher unbefahrene Straße, doch genau in diesem Moment kam ein Auto angerast. Hinter mir hörte ich Marcel noch ganz laut meinen Namen rufen. Starr vor Schreck blieb ich mitten auf der Straße stehen. Ich blickte in die Scheinwerfer des Autos. Ich hörte ein Hupen, gefolgt vom Quietschen der Autoreifen und einem lauten Scheppern. Dann wurde es dunkel um mich herum… und still.
Kapitel 12: "Silent Night" Als ich meine Augen öffnete, lag ich in meinem Bett eingekuschelt und starrte etwas verträumt zur Decke. Ich atmete einmal tief durch und versuchte zur Ruhe kommen. Ich kann froh sein, dass ich überhaupt noch atmete. Als ich da mitten in der Nacht auf der Straße stand und das Auto auf mich zugerast kam, dachte ich schon, dass war´s jetzt! Doch hatte ich Glück im Unglück. Der Fahrer des Autos bemerkte mich noch rechtzeitig und trat auf die Bremse, jedoch kam er bei der Eisglätte ins Schlittern, kam von der Fahrbahn ab und krachte gegen eine Laterne des Wirtshauses. Ich kam mit dem Schrecken davon. Der Fahrer verlor für einen kurzen Moment das Bewusstsein und wurde mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Ich hab also große Scheiße gebaut! Ich drehte mich zur Seite und erblickte die Schneekugel, die auf meinem Nachtkästchen stand. Ich streckte meine Hand nach ihr aus und schüttelte sie einmal. Der Schnee darin wirbelte umher und es schien so, als würde der Junge mit dem schneeweißem Haar mich traurig ansehen. Jack, wo bist du nur? Wieso kommst du nicht zurück zu mir? Fragen über Fragen schossen mir durch den Kopf, die mich mehr und mehr deprimierten. Ich hatte mein Herz an einen Jungen verloren, den ich womöglich nie wieder sah. Wie dumm ich doch war… „Ich weiß wirklich nicht, was du dir dabei gedacht hast. Das war unvernünftig und dumm, ohne zu schauen, auf die offene Straße zu rennen!“, belehrte mich mein Vater. Meine Familie war natürlich heilfroh, dass mir nichts Schlimmeres widerfahren war, aber meine Eltern waren dennoch auch sehr wütend auf mich. Wäre ich nicht bereits volljährig, hätten sie mir einen Monat Hausarrest gegeben. Es war Heiligabend und wir saßen alle gemeinsam am Esstisch – meine Eltern, die Zwillinge, Lena und Christoph, meine Oma und ich. Unser Hund Niko aß in der Zwischenzeit aus seinem Fressnapf. Dieses Weihnachten gab es kein verkohltes Abendessen und keinen Stromausfall. Es hätte das perfekte Weihnachtsfest werden können, wenn mein Beinahe-Unfall nicht die Stimmung aller anderen mit runtergezogen hätte. Es herrschte eine unangenehme Stille beim Abendessen und nur vereinzelt wurden Unterhaltungen geführt. „Und morgen seid ihr bei deinen Eltern eingeladen, Christoph?“, hörte ich meine Mutter ihren Schwiegersohn und meinen Schwager fragen. Das war immer noch neu. „Ja, meine Mum kocht wirklich ausgezeichnet.“, antwortete Christoph ihr. Lena räusperte sich daraufhin und er fügte noch schnell hinzu: „Oh, aber du kochst auch wirklich hervorragend, Sabine!“ „Danke dir!“ Meine Mutter lächelte Christoph erfreut zu, als ob sie seine Bemerkung nicht gehört hätte. Danach stand sie auf und richtete schon einmal die Nachspeise für später her. „Dürfen wir unsere Geschenke schon aufmachen?“, fragte Sarah unseren Vater. „Gleich, mein Liebes.“, antwortete dieser ihr. Ich bekam jede Unterhaltung eigentlich nur am Rande mit, denn war ich weder besonders gut gelaunt, noch in großer Weihnachtsstimmung. Da vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Es war ein Anruf von Julius! Ich entschuldigte mich kurz und ging ins Wohnzimmer, um in Ruhe mit ihm zu telefonieren. Der Weihnachtsbaum stand hell beleuchtet neben dem Kamin und darunter lagen jede Menge Geschenke. „Hey Jules!“, begrüßte ich ihn liebevoll. „Na du? Hast du dich von den Strapazen der letzten Tage erholt?“, fragte mich Julius zugleich. „Mir geht´s gut. Mach dir keine Sorgen, aber was ist mit dir?!“, erwiderte ich besorgt. „Mein Arzt meinte, dass ich nächstes Jahr im Frühjahr vielleicht wieder nach Hause kann. Die Therapie schlägt gut an und alle Chancen stehen auf Genesung. Du wirst mich also schon sehr bald wieder an der Backe haben.“ Diese Nachricht freute mich ungemein und war wohl das schönste Geschenk, das man mir überhaupt bereiten konnte. „Apropos Backe…“ Jetzt kam´s, dachte ich mir. „Du kleiner Bastard! Wer dich als Freund hat, der braucht wahrlich keine Feinde mehr. Hatten wir nicht ausgemacht, dass wir uns zu Weihnachten nichts schenken? Wieso überreicht mir meine Mum heute Mittag ein Paket, das von dir zugestellt worden ist? Und noch schlimmer: Wieso in Herrgotts Namen schenkst du mir rosarote Unterwäsche mit Herzchen drauf?!“ Ich lachte lauthals. „Damit ich später einmal deinen süßen Hintern darin bewundern kann!“ „Träum weiter! Das wird nie im Leben geschehen!“, erwiderte Julius, von dem ebenfalls ein Lachen zu hören war. Es bereitete mir Freude, ihn Lachen zu hören. Nun würde alles wieder gut werden. „Ich vermiss dich, Jules.“, sagte ich schließlich. „Ich vermiss dich auch. Wir hören und sehen uns. Bis bald!“ Julius legte auf und ich hörte nur noch das Knistern im Kamin, von dem eine wohlfühlende Wärme ausging. „Geschenkeee!“, hörte ich meine kleine Schwester Sarah auf einmal schreien, die alsdann auch mit Sebastian ins Wohnzimmer gestürmt kam. Kurz darauf stolzierte auch meine restliche Familie herein. Meine Mutter machte das Radio an, aus dem weihnachtliche Musik ertönte und schon bald herrschte eine friedvolle und warme Atmosphäre. Ich ging zu meinen Eltern und sagte zu ihnen etwas, was Kinder ihren Eltern heutzutage viel zu selten sagen: „Ich hab euch lieb und es tut mir Leid!“ Meine Mum hatte Tränen in den Augen, lächelte aber und sah zu meinem Dad rüber, der mich noch immer finster anschaute. Doch dann fuhr auch ihm ein Lächeln übers Gesicht und er nahm mich in den Arm. Es war ein wundervoller kurzer Augenblick. Nun war denk ich alles wieder gut und wir konnten Weihnachten so richtig genießen. Nachdem die ersten Geschenke geöffnet waren und Sebastian für reichlich Unterhaltung mit dem Chemie-Set sorgte, dass ich ihm schenkte, setzte ich mich neben meine Oma, die gerade ein paar von Lenas selbstgebackenen Plätzchen probierte. „Was ich dich eigentlich schon längst einmal fragen wollte. Habt ihr noch die Eltern des kleinen Mädchens gefunden. Im Shopping-Center mein ich.“ „Mädchen? Ach du meinst sicherlich die kleine Bell. Naja… eigentlich nicht, denn kurz nachdem du weg warst, war sie wie vom Erdboden verschwunden. Lena und ich haben überall nach ihr gesucht. Wir haben dann vermutet, dass sie ihre Eltern gefunden hat und sie einfach vergessen hat, sich von uns zu verabschieden. Ich hab sie jedenfalls nie wieder gesehen.“, erklärte mir meine Oma, die jetzt wohl darüber nachgrübelte, ob es dem kleinen Mädchen auch wirklich gut ginge. Mein Handy fing erneut zu vibrieren an. „Oh entschuldige.“, sagte ich zu Oma, die mit den neuartigen Techniken nur wenig anzufangen wusste. Diesmal war es kein Anruf, sondern eine neue WhatsApp-Message von Lexi: „Yasin und ich würden dich heute gerne noch einmal sehen. Warten im Stadtpark am Dom am großen Weihnachtsbaum auf dich. Bis gleich!“ Ein trauriges Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Es war die letzte Gelegenheit mit meinen Freunden Weihnachten zu feiern, also erklärte ich meiner Familie den Sachverhalt und die hatten Verständnis dafür. Ich zog mir also schnell was über und machte mich auf den Weg in den Stadtpark.
Dort angekommen, schlenderte ich erstmal gemütlich den langen Weg durch den Park. Nur vereinzelt kamen mir Personen entgegen, darunter ein älterer Herr mit seinem Hund und ein junges Liebespaar. Inzwischen hatte es auch wieder angefangen zu schneien und im Licht der Laternen sah dies wunderschön aus. Etwas wehmütig blickte ich zum Himmel, dann durch den Park und die schneebedeckte Natur. In mir ist nach wie vor der Drang vorhanden, Jack endlich wieder zu sehen, doch musste ich mich wohl damit abfinden, dass er nicht zu mir zurückkehren würde. Leider. Als ich am Christkindlmarkt ankam, war dieser verlassen und alle Buden natürlich geschlossen. Den Heiligabend verbrachte in der Regel jeder im Kreise seiner Familie. Doch es gab ein Anzeichen für Leben auf dem Platz, als ich zum großen und beleuchteten Weihnachtsbaum blickte. Lexi stand davor und in ihren Armen hielt sie Yasin. Die Beiden gaben ein wirklich schönes, wenn auch ungleiches Paar ab. Sie standen eng umschlungen unter dem Weihnachtsbaum und irgendwie hoffte ich noch immer vergebens auf ein Weihnachtswunder. „Frohe Weihnachten euch Zwei!“ Yasin und Lexi lösten sich aus der Umarmung und sahen mich glücklich lächelnd an. „Das ich dir wünschen auch.“, erwiderte Yasin, der mir freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Lexi schlang ihre Arme um mich und ließ sich von mir ganz fest an sich drücken. Yasin zeigte keine Spur von Eifersucht, denn da ich homosexuell war, ging von mir schließlich keinerlei Gefahr aus. „Ich hoffe ihr konntet den Abend auch ein wenig genießen.“, sagte ich betrübt. „Wir haben mit meinen Eltern zu Abend gegessen.“, erklärte Lexi mir, nachdem sie sich von mir löste. „Sie nehmen das Ganze noch immer sehr gefasst auf, auch wenn ich glaube, dass meine Mum nachts zu weinen anfängt. Ich tu ihnen das auch nur ungern an, aber ich hab keine andere Wahl.“ „Sie verstehen es, ich denke.“, meinte Yasin tröstend dazu. „Ich wünsch euch Beiden nur alles erdenklich Gute.“, sagte ich dieses Mal an Yasin gewandt. „Das du mir gut auf sie Acht gibst. Sie hat den Hang dazu, sich in Schwierigkeiten zu bringen.“ Lexi fing zu lachen an. „Als ob du besser wärst!“ Es war ein schönes Gefühl, sie noch einmal so fröhlich zu sehen. „Doch wir werden gegenseitig auf uns aufpassen.“ Dann umarmte sie mich erneut und ich erwiderte die Umarmung. „Ich werde dich vermissen Lukas. Du bist der beste, dümmste und naivste Freund den ich je haben werde!“ „Ach ja?“, reagierte ich etwas sauer. „Ja! Du hast bis jetzt immer noch nicht das letzte Rätsel geknackt, dabei ist die Lösung doch so leicht. Du stehst quasi davor und läufst dennoch blindlings durch die Gegend.“ Lexis Worte regten mich zum Nachdenken an - „Dreh das Rad des Schicksals, dann ist das Wunder vollbracht!“ Und auf einmal ging mir ein Licht auf. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich um den Christbaum herum und blickte zu dem großen Riesenrad. „Na bitte, du hast es endlich begriffen. Da wird ER sich freuen, wo er doch schon so lange auf dich wartet, du ihm aber kaum Beachtung geschenkt hast, weil du so vernarrt in diesen Jack bist.“ Ich schaute Lexi verwirrt an. Wen könnte sie meinen? „Ich gebe dir mal einen Tipp: „Renn nicht einem Typen hinterher, der dich ohnehin nicht verdient hast. Zumal du auch was Besseres verdient hast. In dem Riesenrad wartet ein Junge auf dich, der sich etwas ganz Besonderes für dich einfallen lassen hat. Mit viel Liebe und Freundschaft hat er dir bewiesen, wie wichtig du ihm bist.“ „Du meinst…, hinter all den Rätseln steckt…?“ Ich konnte es nicht glauben. War dem wirklich so? „Jetzt geh endlich. Keine Sorge, wir sehen uns schon noch einmal, bevor ich abreise. Doch wenn du jetzt nicht gehst, wird jemand ganz anderes für immer aus deinem Leben verschwunden sein!“ Lexi war eine wirklich gute Freundin und ich hatte sie sehr lieb. Ich drückte sie noch einmal zum Abschied und ging anschließend aufs Riesenrad zu, während sie zusammen mit Yasin durch den Schnee nach Hause stapfte. Auch das Riesenrad war hell beleuchtet, doch stand es still. Vor der untersten Gondel war ein roter Teppich ausgerollt, was an eine Filmpremiere erinnerte. Unsicher und nervös schritt ich auf die Gondel zu. War wirklich er es, der hinter all den Rätseln steckte? Er muss es sein, denn nur er konnte all die Verstecke kennen. Ich hätte schon viel früher drauf kommen können, aber ich war wohl wirklich blind. Ich hatte nur Jack vor Augen und dachte gar nicht an… „Marcel?“ Ich hatte die Tür zur Gondel geöffnet und tatsächlich saß im Inneren ein Junge, den ich dieses Frühjahr genau an diesem Ort kennen lernte. Marcel wirkte traurig bis zu dem Zeitpunkt, als ich in die Gondel gestiegen kam. Von da an breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus und mir war so, als könnte ich sogar sein Herz klopfen hören. Das Versteck in der CODA, der Blumentopf in der Uni, die Krone eines Schneemanns, meine Schwester und nun das Riesenrad – hinter all dem steckte er, von dem ich nie gedacht hätte, dass er tiefer gehende Gefühle für mich hätte. „Und ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“, sagte Marcel sanft lächelnd zu mir. „Ich bin doch wirklich der dümmste Mensch auf Erden.“, erwiderte ich etwas unsicher, da ich nicht so recht wusste, wie ich auf diese Offenbarung reagieren sollte. Ich meine, Marcel gefiel mir schon, aber ich hatte nie wirklich näher darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn wir zwei… „Tut mir Leid, dass du so lange warten musstest und ohne Lexi wäre ich wohl immer noch nicht hier.“, gab ich ehrlich zu. „Ist schon gut. Jetzt bist du ja da. Es ist zwar schön, dass du gerade nur Augen für mich hast, aber hast du dich in der Gondel überhaupt mal umgesehen?“ Marcel deutete an die Fensterscheiben hinter sich und hinter mir, die mit jeder Menge Fotos vollgeklebt waren. Auf den Fotos waren allerlei Erlebnisse aus unserem gemeinsamen Jahr zu sehen: Ein Foto von mir, Lexi und Marcel, dann ein Foto wo ich mit den Zwillingen im Sommer im Planschbecken rumtollte, das letzte Foto von mir und Julius, bevor er in die Schweiz zog und auch ein Foto, wo ich mit Marcel zusammen an einem Eis schleckte, nur weil er mir die letzte Kugel meiner Lieblingseissorte weggeschnappt hatte. Es waren Fotos lauter schöner Erinnerungen, die fast alle Marcel selber fotografiert hatte. Von diesem Anblick wurde ich sentimental und es berührte mich zutiefst, wie viel Mühe er sich gab, nur um mir zu gefallen. „So und jetzt…“, Marcel gab ein Handzeichen nach draußen und auf einmal setzte sich das Riesenrad in Bewegung. „Das hab ich alles nur für dich organisiert, weil du mir wirklich viel bedeutest. Ich wollte dir zu Weihnachten ein ganz besonderes Geschenk machen.“ „Du bist einfach unglaublich und ich danke dir so von Herzen.“ Als Zeichen meiner Dankbarkeit und meiner Liebe schenkte ich Marcel einen Kuss auf die Wange, doch als ich ihm so nahe war, wollte ich plötzlich mehr. In meinem Herzen feierten Weihnachtselfen eine wilde Discoparty. Marcel schien es genauso zu ergehen. Mit seiner rechten Hand hielt er meinen Kopf fest und zog mich wieder näher an sich heran, damit sich seine Lippen mit den meinen berührten. Natürlich hatte ich Jack nicht vollends aus meinem Gedächtnis gestrichen, aber ich wollte es zumindest auf einen Versuch mit Marcel ankommen lassen, der einfach alles für mich gegeben hat. Unsere Gondel stand am höchsten Punkt des Riesenrads, um uns herum herrschte überall Weihnachtsstimmung und wir küssten uns.
Epilog: "Believe" Ein eiskalter Wind zog durch den Himmel, als eine ganz besondere Schneeflocke auf die Erde fiel. Die Schneeflocke schwang hin und her, bis unter ihr die ersten Häuser und Bäume zu sehen waren. Doch blieb sie an keinem davon haften, sondern fiel weiter bis hin zum Boden, wo sie vor den Füßen eines Jungen liegen blieb. Der Junge trug einen blauen Pullover und dessen Haar war so weiß wie die Schneeflocke vor seinen Füßen. Der Junge stand im Schutze eines Baumes, wo ihn keiner sehen konnte. Doch er war nicht allein. Ein Klang ertönte. Es war nicht der Wind, auch nicht das Geräusch eines heranfahrenden Autos oder der Klang süßlicher Singstimmen, die man heute überall aus den Häusern vernahm. Es war der Klang eines kleinen Glöckchens. „Du konntest es einfach nicht lassen oder?“, fragte der Klang des Glöckchens, dass in einem Meer von funkelnden Sternen die Gestalt eines kleinen Mädchens annahm. „Ich musste ihn einfach wieder sehen.“, meinte der Junge daraufhin zu dem Mädchen. „Jack…, du hast ihm letztes Jahr den Kopf so stark verdreht, dass er vor ein paar Tagen beinahe das Zeitliche gesegnet hätte.“, sagte das kleine Mädchen erbost. „Ich habe ihn doch gerettet. Ohne mein Zutun, wäre das Auto niemals von der Fahrbahn abgekommen. Durch meine Kräfte habe ich ihn beschützt!“, erwiderte Jack selbstbewusst. „Ohne dein Zutun, wäre er gar nicht erst in diese Lage geraten.“, erwiderte das Mädchen daraufhin. „Ach lass mich doch in Ruhe Schneeglöckchen…, oder soll ich dich jetzt Bell nennen?!“ Jack wandte sich an das Mädchen, das gleich hinter ihm stand. Es war dasselbe Mädchen, um das sich Lukas Oma im Shopping-Center gekümmert hat, weil es angeblich ihre Eltern aus den Augen verloren hatte. „Ich soll dich in Ruhe lassen? Du warst es doch, der mich darum gebeten hat, ein Auge auf den Jungen zu werfen!“ Bell warf Jack einen schuldbewussten Blick zu. „Und du warst es auch, der mich darum gebeten hat, ihm wegen dem Rätsel auf die Sprünge zu helfen, damit er sich neu verlieben konnte. Wenn du mich fragst, ist dein heißgeliebter Lukilein ein ziemlicher Hohlschädel!“ „Ach sei doch still!“, befahl Jack der kleinen Bell und bewarf sie mit einem Schneeball, der jedoch an ihr abprallte und nur den Klang eines Glöckchens hinterließ. „Du bist selbst schuld, Jack!“, meinte Bell kurz darauf. „Alle Jahre wieder kommst du auf die Erde nieder und versuchst Wunder zu bewirken. Doch letztes Jahr hast du dich dabei Hals über Kopf in diesen Knaben verknallt. Doch dich in ein menschliches Wesen zu verlieben, ist dir untersagt und das weißt du. Dir ist schon einmal dieser Fehler unterlaufen und du lernst einfach nicht dazu.“ „Jetzt ist doch alles gut.“, sagte Jack sanft. „Lukas hat sein Glück letzten Endes doch noch gefunden. Er muss nie wieder alleine sein… und vermissen wird er mich nun auch nicht mehr.“ Bell warf Jack einen skeptischen Blick zu. „Aber du wünschtest dir, dass er auch weiterhin an dich denkt, habe ich Recht?“ „Was ich mir wünsche ist nicht von Belang. Letztes Jahr hab ich ihm den Wert vom Glauben vermittelt und nun fange ich zu glauben an. Ich glaube ganz fest daran, dass wir uns eines Tages wieder sehen werden. Doch nun wird es Zeit zu gehen.“ Jack sah zum Himmel hinauf und kurz darauf waren nur noch Schneeflocken an seiner statt zu sehen. Auch die kleine Bell verschwand wieder und wer genau hinhörte, der konnte in dieser Weihnachtsnacht ein himmlisches Glöckchen hören.
ENDE!
Morgen startet der dritte Teil: "Weihnachtsgeschichte die Dritte"!
Prolog: Was bisher geschah Mein Name ist Lukas Hader und ich wurde im November 21 Jahre jung. Ich bin ein bodenständiger Typ, der unter der Obhut zweier liebevoller Eltern aufgewachsen ist. Ich habe drei Geschwister: Meine drei Jahre ältere Schwester Lena ist seit einem Jahr mit ihrem Freund Christoph verheiratet und lebt mit ihm auch gemeinsam. Ihr Kunststudium schloss sie dieses Jahr mit Bravour ab. Die Zwillinge Sebastian und Sarah waren gerade einmal elf Jahre alt, hatten es aber bereits jetzt faustdick hinter den Ohren. Während Sarah eine Menge Verehrer an ihrer Schule hat, musste sich Sebastian mit dem Gedanken auseinandersetzen, er könnte auf Jungs stehen. Wie er zu solch einem Gedanken kam? Nun das könnte daran liegen, dass ich schwul bin und er der Meinung war, dass das in unseren Genen lag, was natürlich ausgemachter Blödsinn war, da unser Vater hetero und glücklich mit unserer Mutter verheiratet ist. Vor über zwei Jahren hatte ich mich bei meiner kompletten Familie geoutet, darunter übrigens auch meine Oma, die in diesem Frühjahr aber leider verstarb. Nachdem ich etwas Mut und Vertrauen gefasst hatte, outete ich mich auch bei meinen besten Freunden: Lexi und Julius. Das verlief zum Glück auch recht erfolgreich ab, denn wir hatten genug andere Probleme. Julius war sterbenskrank und lag wochenlang im Krankenhaus, ehe er mit seiner Mutter in die Schweiz zog, wo es ihm deutlich besser ging. Lexi führte in der Zwischenzeit eine Beziehung mit dem jungen Araber Yasin. Die Zwei sind auch heute noch zusammen, doch da Yasin leider keine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhielt, musste er wieder in sein Land zurück und Lexi begleitete ihn. So stand ich ohne meine besten Freunde da, aber ganz allein war ich dennoch nicht, denn ich lernte Marcel den Kunstfotografen kennen und auch wenn ich es nicht bemerkt hatte, so war dieser doch über beide Ohren in mich verknallt. Erst an Heiligabend vorheriges Jahr erkannte ich, was er für mich empfand und hörte auch auf mein Herz. Wir küssten uns und nach einem langsamen Start ins neue Jahr, wurden meine Gefühle immer intensiver und wir wurden ein richtiges Paar. Ich hatte aber auch Tomaten auf den Augen…, zu meiner Verteidigung, ich war über ein Jahr lang in einen Jungen verknallt, den ich vor zwei Jahren kennenlernte und der auf magische Weise im Schnee verschwand. Sein Name war Jack und bis heute bin ich der Auffassung, dass er der Geist der Weihnachten ist. Doch musste ich der Realität ins Auge blicken, dass dies eine einmalige Begegnung war, denn ich konnte nicht ewig in einer Traumwelt leben und zauberhaften Jungs hinterher trauern, von denen ich nicht wusste, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Apropos wiedersehen und zauberhafte Jungs: Zu meiner großen Freunde kehrte mein bester Freund Julius diesen Sommer wieder aus der Schweiz zurück und teilte mir mit, dass er wieder vollständig genesen sei und fortan bei uns studieren möchte. Das stimmte mich über alle Maßen glücklich, denn nun hatte ich nicht nur einen Freund, sondern auch meinen besten Freund wieder – in den ich zugegebenermaßen einmal leicht verschossen war. Inzwischen war auch ich von Zuhause ausgezogen – Hotel Mutti war geschlossen – und lebte zusammen mit Julius, Marcel und einem weiteren Studenten in einer Wohngemeinschaft. So und hier begann nun meine neue Weihnachtsgeschichte!
Kapitel 13: Winterwunderland Es war Sonntagmorgen, draußen schien bereits die Sonne, aber es war eisig kalt, sodass alle Autoscheiben zugefroren waren. Zum Glück konnte mir dies egal sein, war ich doch die meiste Zeit mit der Bahn oder dem Bus unterwegs. Ich verließ mein Zimmer und schlurfte noch etwas müde und verträumt in die Küche, wo meine WG-Mitbewohner bereits ausgiebig frühstückten. Wie so oft endete dies in einem totalen Durcheinander. Die Küche glich einem Schlachtfeld. Zu unserer Verteidigung: Wir waren vier Jungs! Als erstes schritt ich zu Marcel, der sich gerade Milch zu seinen Cornflakes in die Schüssel schüttete. Ich schenkte ihm einen Guten-Morgen-Kuss, wurde allerdings sofort auf meinen morgendlichen Mundgeruch hingewiesen. „Ich hab mir ja auch noch gar nicht die Zähne geputzt. Das mach ich immer nach dem Frühstücken, das weißt du doch.“, entgegnete ich etwas mürrisch, was nicht daran lag, dass ich ein Morgenmuffel war, sondern weil Marcel in letzter Zeit ständig etwas an mir auszusetzen hatte und meine Nerven zunehmend strapaziert waren. Das führte inzwischen soweit, dass Marcel wieder in seinem eigenen Zimmer nächtigte, nachdem wir zuvor fast jede Nacht gemeinsam in einem Bett verbracht hatten. Natürlich liebte ich Marcel noch immer sehr. Höhen und Tiefen gab es nun mal in jeder Beziehung, aber seit ein paar Wochen kam es mir so vor, als könnte ich meinem Freund gar nichts mehr recht machen. „Wer war diese Woche mit einkaufen dran?“, fragte Julius in die Runde, als er den Kühlschrank öffnete und offenbar nicht das fand, was er suchte. „Öhm ich, wieso?“, fragte Marcel, der sich keinerlei Schuld bewusst war. „Ich hab doch alles gekauft, was auf dem Einkaufszettel stand: Wurst, Käse, Joghurts, Milch, Butter, Brötchen, Kaffee, …“ „Ja, aber du hast wieder einmal keine laktosefreie Milch gekauft.“, entgegnete Julius schnippisch und schlug den Kühlschrank wieder zu. „Du weißt doch, dass ich eine Laktoseintoleranz habe und normale Milch nicht vertrage.“ „Ach Mist, das war wirklich keine Absicht, sorry!“, entschuldigte sich Marcel, dem es sichtlich Leid tat und sich mit der linken Hand an die Stirn schlug. In der Zwischenzeit bediente ich mich bei den aufgebackenen Brötchen und auch mein dritter Mitbewohner Alec griff zu. „Hier Jules, fang!“, rief er und warf Julius das warme Brötchen zu. „Isst du halt eins davon. Morgen geh ich einkaufen und besorg dir dann deine laktosefreie Milch.“ Alec war ein Jahr älter als wir alle und konzentrierte sich in seinem Musikstudium speziell auf Klavier und Gesang. Ich hatte ihn zwar noch nie singen hören, aber im Klavierspielen machte ihm so schnell keiner etwas vor. Wenn er Klavier saß, dann verzauberte er mich und ich gab mich meinen Träumen hin. Alec hatte wie Julius schwarzes dichtes Haar, doch seines war länger und reichte ihm fast bis zu den Schultern. Er achtete stets auf sein Äußeres, denn seiner Meinung nach musste man als Pianist stets gut aussehen. Sein langes Haar ließ er sich trotzdem nicht abschneiden, aber das war auch gut so, denn ihm stand es. Alec spielte auch hin und wieder in der Kirche am Klavier, so auch heute wieder und es war dieselbe Kirche, in der mein kleiner Bruder seit Frühjahr im Chor mitsang. „Wann müssen wir gleich wieder los?“, fragte Julius, als er beim beschmieren seines Brötchens kurz inne hielt, um auf seine Uhr an seinem Handgelenk zu gucken. „Um zehn Uhr beginnt die Kirche. Also beeilt euch besser.“, antwortete Alec ihm. „Tut mir Leid, aber ich passe heute.“, sagte Marcel und nicht nur Alec und Julius blickten ihn überrascht an. Bisher waren wir immer gemeinsam zur Kirche gegangen und ich meinte mich nicht erinnern zu können, dass Marcel gestern oder vorgestern angedeutet hätte, heute nicht mit in die Kirche zu kommen. Auch auf Alecs Frage, ob es ihm nicht gut ginge, schüttelte er den Kopf. „Ich habe einen wichtigen Termin, den ich unmöglich aufschieben kann. Sorry Leute!“ „Einen Termin am Sonntagmorgen?“, fragte Alec und blickte Marcel zweifelnd an. „Davon hast du mir gar nichts erzählt.“, mischte nun auch ich mich ein. „Boah, was geht es euch an, was ich in meiner Freizeit mache?!“, sagte Marcel nun lautstark und stand aufgebracht von seinem Stuhl auf. „Ich muss euch doch nicht alles erzählen!“ „Äh nein, ihnen vielleicht nicht, aber ich würde schon gerne wissen, was du so Dringendes zu erledigen hast, was du uns nicht erzählen willst.“, entgegnete ich und wurde selber ein wenig sauer. „Ich erzähle es dir… irgendwann.“, antwortete Marcel nun wieder etwas ruhiger, bevor er mit einem traurigen Blick aus der Küche marschierte. Eine unangenehme Stille durchflutete den Raum und ich spürte die Blicke von Julius und Alec im Nacken. Es war mir peinlich, dass nicht einmal ich wusste, welchen wichtigen Termin Marcel hatte, wo ich doch sein Freund war. Ich fühlte mich schlecht deswegen, doch mir blieb nichts anders übrig, als zu warten und zu hoffen.
Normalerweise war die Kirche selbst am Sonntag nur rar besucht, doch heute war es was anderes. Nicht nur das heute der erste Advent war, heute trat auch der Kirchenchor, bestehend aus mehreren Jungs und ein paar Mädchen, auf. Unter den Jungs befand sich auch mein kleiner Bruder Sebastian, dem ich vor dem Kircheneingang noch einmal viel Glück wünschte. „Du machst das schon, kleiner Bruder.“, sagte ich zu ihm, während an uns Menschen vorbeiströmten, die in die Kirche wollten. Natürlich war meine ganze Familie gekommen, um meinem kleinen Bruder beim Singen zuzuhören – okay, der Gottesdienst an sich war natürlich auch ein Grund. Doch ehe wir die Kirche betraten, wollten meine Eltern unbedingt noch das Grab unserer Oma besuchen. Sarah begleitete sie, denn sie trauerte noch immer sehr um unsere geliebte Oma, die im Frühjahr von uns gegangen war. „Guten Morgen!“ Meine große Schwester Lena und ihr Mann Christoph kamen den Weg, vorbei an den Gräbern, entlang gelaufen und begrüßten uns recht herzlich mit einer warmen Umarmung. Lena übertrieb es aber wieder einmal und gab Sebastian einen feuchten Kuss auf die Stirn, was dieser nur mit einem Ekelausdruck im Gesicht zur Kenntnis nahm. „Du meine Güte.“, sagte Lena. „Ein Kuss von einer hübschen Frau und du verziehst das Gesicht? Bist du etwa auch schwul, so wie unser Lukas?“ „Ich sehe keine hübsche Frau, nur ein Altweibermonster!“, entgegnete Sebastian frech und nach Rache durstend. Damit traf er auch genau ins Schwarze, denn Lena guckte fortan beleidigt drein, während Christoph und ich in Gelächter ausbrachen, doch Lena musste ihrem Göttergatten nur einen drohenden Blick zuwerfen und sein Gelächter verstummte. Zwischenzeitlich kam auch der Rest meiner Familie hinzu und meine Mutter freute sich natürlich, all ihre Kinder zu sehen. „Lena, Christoph, schön das ihr auch gekommen seid.“ „Na Christoph, bei euch Zuhause auch alles in Ordnung?“, fragte mein Vater, der meinem Schwager auf die Schulter klopfte. „Sabine und ich würden uns übrigens sehr darüber freuen, wenn wir eines schönen Tages auch mal Großeltern würden.“ „Oh mein Gott Papa, muss das denn jetzt wirklich sein?!“, stieß Lena geschockt aus. „Himmel nein, doch nicht jetzt, das ist weder der passende Ort, noch der geeignete Zeitpunkt, um jetzt… na ihr wisst schon, außerdem ist es dazu viel zu kalt!“, entgegnete mein Vater, der Lenas Aussage mit Absicht missverstand, um sich einen Scherz zu erlauben. „Apropos kalt. Wir sollten reingehen.“, meinte Alec, der bei jedem Wort einen eiskalten Atemhauch ausstieß. „Die Kleinen friert es und wir wollen doch nicht, dass Sebastian krank wird und seine Stimme darunter zu leiden hat.“ „Nein, noch nicht.“, widersprach mein kleiner Bruder, der zuerst zu uns Älteren aufsah und dann zum Parkplatz vor der Kirche, von dem noch immer Menschen herbeiströmten. „Wartest du etwa noch auf jemanden?“, fragte meine Mutter ihn. Sebastian antwortete ihr nicht, doch bereits nach kurzer Zeit wurden seine Augen größer und ein strahlendes Lächeln bildete sich in seinem Gesicht. „Okay, wir können.“, sagte er, drehte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort der Erklärung in der Kirche. Als alle in die Kirche gingen, blickte ich zum Parkplatz und zu einer Familie, bestehend aus den Eltern und ihrem scheinbar einzigen Sohn. „Nun beeil dich doch ein bisschen Noel. Wir sind spät dran. Die Kirchenglocken läuten schon.“, sagte die Mutter zu ihrem Sohn, der mit Mütze, Handschuhe und Schal dick eingepackt war, aber ich glaubte in ihn einen Mitschüler von Sebastian zu erkennen. „Hey Lukas, kommst du?“, fragte Julius, der im Eingang auf mich wartete.
Der Gottesdienst war wie erwartet recht langweilig und eigentlich konnte ich hinterher nicht sagen, welche Botschaft die Predigt des Pfarrers nun eigentlich übermitteln sollte. Doch dafür war der Chorgesang umso schöner. Sebastian war zwar nur einer von zwanzig Kindern, deren Stimmen heller als Kirchenglocken erklangen, aber ich sah dennoch mit Freuden, wie viel Spaß es meinem kleinen Bruder bereitete, in dem Chor mitsingen zu dürfen. Zudem war Alec ein ausgezeichneter Pianist, der von einer japanischen Violinistin namens Yuki Tenshi begleitet wurde. Ich saß zwischen Christoph und Julius und bei genauerem Betrachten stellte ich fest, dass Julius bei dem Lied seine Augen geschlossen hatte und offenbar zu beten schien. Gut, beten, war sicherlich nicht das Verkehrteste in einer Kirche, aber ich wusste, dass Julius nicht sehr christlich angehaucht war und zudem nicht an Gott glaubte, weshalb es mich doch ein wenig wunderte. Er kam eigentlich nur mir zu Liebe mit in die Kirche und weil er meine Familie sehr mochte und sie ihn. Doch eigentlich waren meine Gedanken die ganze Zeit über wo ganz anders: Nämlich bei Marcel! Ich war erpicht darauf zu erfahren, was er mir zu erzählen hatte. Ein klein wenig Angst hatte ich aber auch, denn vielleicht hatte seine Geheimniskrämerei auch mit mir zu tun. Auf der Herfahrt zur Kirche meinte Julius, dass Marcel vielleicht wieder ein besonderes Weihnachtsgeschenk für mich plante. Letztes Jahr hatte er mir mehrere Rätsel zukommen lassen, die ich lüften musste und am Ende wartete er auf mich im Riesenrad, mit vielen schönen Fotos von uns und unseren Freunden. Es war ein unvergesslicher und romantischer Abend, der nicht nur bei einem einzigen Kuss blieb. Nach der Kirche überprüfte ich schließlich mein Handy, ob Marcel mir eine Nachricht geschickt hat, doch leider Fehlanzeige. Dennoch befand sich eine Nachricht in meinem Postfach, die anonym abgeschickt wurde. Als ich die Nachricht öffnete und las, gefroren meine Beine zu Eis: „Ich weiß wer du bist, wie du aussiehst und was du getan hast. Dafür wirst du büßen!“ „Hey, was liest denn da?“, fragte Julius mich, der sich hinterrücks an mich anschlich und mir über die Schulter ins Handy zu schauen versuchte. Doch ich senkte mein Handy und verwehrte ihm die Nachricht. „Man Lukas, du bist ja plötzlich ganz blass im Gesicht. Ist alles okay bei dir?“ Ich nickte und steckte das Handy zögerlich in meine Hosentasche zurück. Julius blickte mich aber weiterhin beunruhigt an, doch da kurz darauf auch meine Familie zu uns stieß, ließ er die Sache auf sich beruhen. Nach etwa zehn Minuten stießen dann auch Alec und Sebastian zu uns. Mein kleiner Bruder lächelte glücklich und winkte seinem Mitschüler Noel zum Abschied zu, der mit seinen Eltern bereits wieder durch den Schnee zum Parkplatz stapfte. War mein kleiner Bruder etwa verliebt? Wir verließen zusammen das Kirchengelände, ohne zu bemerken, dass sich eine Person hinter einem Baum auf dem Friedhof versteckt hielt und uns – oder besser gesagt mich – genau beobachtete.
Kapitel 14: Eiszeiten Die unheimliche Nachricht des unbekannten Absenders, die mein Handy erreichte, bereitete mir die ganze Woche Kopfzerbrechen. Auch verspürte ich eine gewisse Angst. Ich war mir zwar keinerlei Schuld bewusst, aber wer weiß schon, was in den Köpfen so mancher Leute vor sich ging. Kurzzeitig hatte ich auch den Gedanken, dass die Nachricht von Marcel stammen könnte, der mir wieder Rätsel aufgab, doch diesen Gedanken verwarf ich ganz schnell, da ich ihm sowas Geschmackloses einfach nicht zutraute. Wenigstens war das die einzige Nachricht und seitdem wieder ruhig. Ablenkung fand ich in der bevorstehenden Weihnachtsfeier an Nikolaus auf unserer Uni. Alle Studenten mussten mitanpacken, um den Festsaal weihnachtlich zu schmücken, oder um ein paar Einlagen vorzubereiten, die auf der Feier aufgeführt werden sollten. Während ich und Julius beim Dekorieren halfen, übte Alec mit ein paar anderen Musikstudenten ein Weihnachtsstück, welches sie aufführen wollten. Demnach sah ich Alec nur ganz selten diese Woche, aber auch Marcel verschwand des Öfteren aus meinem Blickfeld. Es schien so, als würde er mir aus dem Weg gehen, was mich nicht nur sauer, sondern auch sehr traurig stimmte. Ich vermisste unsere gemeinsamen Nächte, gerade jetzt, wo die Nächte so kalt wurden und seine Wärme Balsam für meine Seele war. Das er mir etwas verheimlichte war klar, doch wollte ich nicht so ein Freund sein, der ihm die Pistole auf die Brust drückt und ihn auffordert, die Wahrheit zu sagen, da ich sonst Schluss machen würde. Ich wollte auch nicht gleich alles überdramatisieren und Marcel zumindest die Chance geben, einen Schritt auf mich zuzugehen, doch so langsam verlor auch ich meine Geduld und mit jedem Tag der verstrich, wurde mein Vertrauen ihm gegenüber geringer. „Herr Hader!“ Mein Dozent Mr. Gabriel kam auf mich und Julius zu, als wir gerade damit beschäftigt waren, eine Lichterkette am Christbaum anzubringen. „Genau der junge Mann, den ich gesucht habe. Dürfte ich fragen, was Sie hier tun? Ich meine, ich sehe was Sie tun, aber WARUM tun SIE es?!“ „Tut mir leid, aber ich verstehe nicht ganz.“, entgegnete ich verwirrt und auch Julius blickte mich nur ratlos an. Mr. Gabriel sprach gerne in Rätseln. „Dieses Semester sieht es nicht gerade berauschend für Sie aus, Herr Hader.“, erklärte Mr. Gabriel mir genauer. „Ihre Leistungen waren bisher eher durchschnittlich bis schwach, als überragend. Bis zu den Prüfungen ist es zwar noch ein Weilchen hin, aber wenn Sie sich nicht endlich richtig hinters Brett klemmen, dann sehe ich schwarz für Sie. Vor Weihnachten sollten Sie unbedingt noch eine gute Arbeit abliefern, damit wir sehen, dass Sie es mit ihrem Kunststudium noch immer ernst meinen.“ „Vor Weihnachten noch? Aber Mr. Gabriel wie soll ich das schaffen? Über welches Thema soll meine Arbeit überhaupt handeln?“, fragte ich und war über diese Aufgabe mehr als überrascht. Mr. Gabriel blickte mich ernst an und antwortete schließlich: „Es ist die Zeit von Weihnachten. Lassen Sie sich von ihrer Fantasie verzaubern und überraschen Sie mich.“ Nachdem Mr. Gabriel wieder gegangen war, tapste ich wie ein Irrer hin und her. „Wie soll mir auf die Schnelle etwas einfallen? Es muss schon was Gutes sein, um Mr. Gabriel von meinem Talent zu überzeugen.“, sagte ich, während Julius unbeirrt die Lichterkette am Christbaum anbrachte. „Du könntest den Weihnachtsmann im Rentierschlitten zeichnen.“, schlug er vor. „Das ist zwar nicht besonders originell, aber kleine Kinder freut das sicherlich. Ich schlug mir die Hände über den Kopf. „Nur ist Mr. Gabriel alles andere als ein kleines Kind!“ „Naja, es geht das Gerücht um, er spiele noch mit Modelleisenbahnen.“, erwiderte Julius belustigt. „Jules, du bist keine große Hilfe!“, sagte ich resigniert. „Jetzt beruhig dich doch erstmal, bleib locker.“, sagte Julius, der von der Leiter hinunter stieg und einen Arm um mich legte, um mich aufzubauen. „Dir wird schon noch das Geeignete einfallen. Da bin ich mir sicher. Wenn du jetzt was überstürzt, ist dir damit am wenigsten geholfen.“ „Gut. Ich gehe wohl besser nach Hause. Kommst du mit?“, fragte ich. „Nein tut mir Leid, aber ich hab doch später noch meinen Vorsorgetermin bei Dr. Lazarus.“, antwortete Julius mir. Seinen Arzt-Termin hatte ich ganz vergessen. Zurzeit war einfach viel zu viel um mich herum los, als das ich mir alles hätte merken können. „Aber geh du ruhig schon einmal nach Hause und mach dir nicht immer so viele Gedanken über dies und jenes. Alles wird gut werden!“
Ich war froh, als ich Zuhause in der WG ankam, mir die Schuhe auszog und mich in mein Zimmer zurückziehen konnte. Keiner war Zuhause, ich konnte also ungestört überlegen, was für eine Arbeit ich bei Mr. Gabriel abliefern möchte. Doch noch bevor ich in mein Zimmer ging, konnte ich das Klirren von Geschirr aus der Küche vernehmen. War noch jemand hier? Alec und Julius konnten es nicht sein, denn die waren ja in der Uni. Demzufolge konnte es nur Marcel sein und tatsächlich, als ich in die Küche ging um nachzusehen, entdeckte ich Marcel mit einer Tasse in der Hand. „Du bist hier?“, fragte er mich überrascht und wenig freundlich. „Hey, ich freu mich auch dich zu sehen.“, erwiderte ich sarkastisch. Marcel sah mich betrübt an und in seinen Augen konnte ich erkennen, dass ihm sein Verhalten Leid tat. „Auch eine Tasse Tee – Sorte Apfel-Zimt?“ Ich schüttelte den Kopf, doch setzte ich mich zu ihm an den Tisch. Ich berichtete ihm von meinem Tag in der Uni und von der Aufgabe, vor die mich Mr. Gabriel unerwartet stellte. Zum Glück interessierte sich Marcel dafür, sonst hätte ich echt geglaubt, dass ich ihm inzwischen völlig egal gewesen wäre. „Julius hat Recht. Überstürze nichts. Du hast noch bisschen mehr als zwei Wochen Zeit. Denk in Ruhe darüber nach und dann zeichne einfach drauf los. Bei deinem Talent hege ich keine Zweifel, dass nichts Gutes dabei rauskommt.“ Marcels aufmunternden Worte zauberten mir heute das erste Mal ein Lächeln ins Gesicht. Ich stand von meinem Stuhl auf, setzte mich auf den Stuhl neben ihm und legte meinen Arm um ihn. „Ich vermisse unsere Zweisamkeit, Marcel.“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Ich weiß.“, sagte Marcel lediglich. „Du willst sicherlich eine Erklärung für mein Verhalten, aber ich…“ Bevor Marcel seinen Satz noch zu Ende sprechen konnte, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Ich zog es hervor und entdeckte eine neue Nachricht eines unbekannten Absenders. „Nicht schon wieder.“, sagte ich und Marcel blickte mich verdutzt an. Ich zeigte ihm die Nachricht: „Glaube nicht, dass du ungestraft davon kommst. Ich werde mir wieder holen, was mir gehört!“ „So eine ähnliche Nachricht hab ich vor einer Woche schon einmal erhalten. Zuerst hielt ich es für einen dummen Streich, aber jetzt habe ich wieder so eine ähnliche Drohnachricht erhalten.“ Ich blickte zu Marcel, ob er sich einen Reim darauf machen konnte, doch seltsamerweise wirkte er mehr als entsetzt über diese Nachricht. Sein Gesicht war kreidebleich und ehe ich mich versah, stand er auf und sagte: „Sorry, aber mir fällt gerade ein, dass ich noch etwas Dringendes zu erledigen habe… Weihnachtsgeschenke besorgen, du verstehst?!“ „Heute ist Sonntag!“, rief ich ihm hinterher, denn alle Läden hatten heute verständlicherweise zu. Doch Marcel war schon zur Haustür gespurtet und war auf und davon. Erneut wurde ich von ihm einfach sitzengelassen und hatte keine Ahnung was in ihm vorging. Erneut wurde ich wütend und an meine Arbeit für Mr. Gabriel war gar nicht mehr zu denken.
Ich war frustriert und enttäuscht von Marcel, der mich so eiskalt abblitzen ließ. Ich zog ernsthaft eine Trennung in Erwägung, doch um einen kühlen Kopf zu behalten, unternahm ich erst einmal einen kleinen Spaziergang durch den Park, der an einer Mauer grenzte, in dem früher eine mittelalterliche Burg stand. Alles um mich herum war still. Ich schien der einzige Mensch im Park zu sein und doch hatte ich nach einer Weile das Gefühl, nicht allein zu sein. Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig, doch kam ich von diesem Gefühl nicht mehr los. Durch meine Unachtsamkeit rutschte ich auf einer kleinen Eisfläche aus. Ich stürzte zu Boden und verlor für wenige Sekunden mein Bewusstsein. In diesen Sekunden glaubte ich einen Jungen mit schneeweißem Haar und eisblauen Augen zu sehen. Ich musste nicht lange überlegen, um zu wissen, um wen es sich bei diesem Jungen handelte: „Jack!“ „Jack? Du musst dir deinen Kopf härter aufgeschlagen haben, als ich dachte.“, hörte ich eine Stimme. Ich öffnete meine Augen und entdeckte den Leiter der CODA, Shane West! „Schönen guten Abend Lukas. Wir haben uns ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“, sagte er und reichte mir eine Hand um aufzustehen. Nachdem ich wieder auf zwei Beinen stand, langte ich mir mit einer Hand unter die Mütze an den Hinterkopf, um zu sehen, ob ich blutete oder so. „Was machst du hier Lukas? Nachts kann es hier ganz schön gefährlich sein. Zudem ist es eisig kalt, da sollte man lieber zuhause bleiben und vor einem Kamin sitzen.“ „Ich musste mir ein wenig die Beine vertreten und frische Luft tanken.“, erklärte ich Herrn West. „Okay… und wer ist Jack? Dein neuer Freund?“, harkte er neugierig nach. Ich schmunzelte. „Nein, Jack ist… nicht real.“, antwortete ich, woraufhin Herr West mich verdutzt anstarrte. „Und wie geht es Ihnen? Geht es Ihnen gut?“ „Mir geht es gut ja. In der CODA läuft alles seinen geordneten Weg und auch sonst hab ich nicht viel zu beklagen. Außer vielleicht in der Liebe…, da will mir das Glück einfach nicht hold sein.“, antwortete er mir. „Aber in einer Woche bekomme ich Besuch von meinem Ex-Freund. Nicht, dass ich mir Hoffnungen machen würde, dass wir wieder zusammen kämen, aber ich freu mich richtig, ihn endlich mal wieder zu sehen. Er ist nämlich vor einiger Zeit nach Hamburg gezogen.“ „Das klingt doch schön, auch dass Sie sich noch so gut mit ihm verstehen.“, sagte ich, doch allmählich begann es mich zu frieren und ich rubbelte mir die Hände warm. „Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich mich jetzt verabschiede? Sie haben nämlich Recht: Es ist eisig kalt!“ „Nein, natürlich macht es mir nichts aus.“, erwiderte Herr West mit einem Lächeln im Gesicht. „Vielleicht treffen wir uns mal wieder auf einen Kaffee? Vielleicht sogar nächstes Wochenende, wenn mein Ex-Freund zu Besuch ist? Ich stelle ihn dir gerne vor. Selbstverständlich kannst du deinen Freund auch mitbringen.“ Ich nahm Herrn West Einladung gerne an und verabschiedete mich anschließend wieder von ihm. Es war schön, ihn mal wieder getroffen zu haben und meine Sorgen der letzten Stunden waren auch wie weggeblasen. Meine Zuversicht kehrte zurück, aber das lag weniger an der Begegnung mit Herrn West, sondern vielmehr daran, dass ich Jack gesehen habe.